Gefahr aus Fettzellen

Abspecken scheint MS zu dämpfen

Stark übergewichtige Menschen haben ein hohes Risiko, an Multipler Sklerose zu erkranken - offenbar liegt das an entzündungsfördernden Signalen aus dem Fettgewebe. Abspecken könnte nach experimentellen Daten aber auch eine bestehende MS lindern.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Forscher vermuten: Dicke leiden weniger stark unter ihrer MS, wenn sie abspecken.

Forscher vermuten: Dicke leiden weniger stark unter ihrer MS, wenn sie abspecken.

© Luis Louro / fotolia.com

BOSTON. Epidemiologische Studien lassen kaum Zweifel: Dicke bekommen häufiger eine MS als Normalgewichtige, und das Risiko für eine MS scheint sowohl vom Ausmaß als auch vom Beginn der Adipositas abzuhängen.

Dicke Kinder sind demnach besonders gefährdet, an MS zu erkranken. Auf dem weltgrößten Treffen von MS-Experten in Boston hat Dr. Ruth Ann Marrie von der Universität in Winnipeg in Kanada an die Ergebnisse großer Kohortenstudien erinnert.

So erkrankten von den Frauen der Nurses‘ Health Study, die bereits mit 18 Jahren einen BMI über 30 aufwiesen, in den folgenden Jahren mehr als doppelt so viele an einer MS wie normalgewichtige Teilnehmerinnen.

In einer schwedischen Studie war das Erkrankungsrisiko bei einem BMI von 27 bis 29 verdoppelt und bei einem BMI von 23 bis 25 bereits um 20 Prozent höher als bei dünneren Teilnehmern.

Besonders hoch scheint das Risiko aber für adipöse Mädchen zu sein: Sie entwickelten später knapp vierfach häufiger eine MS als Mädchen ohne Übergewicht.

Der Effekt ist zudem geschlechtsspezifisch, für dicke Jungs ergab sich in Studien allenfalls ein Trend zu einem höheren MS-Risiko, berichtete Marrie.

Hungern macht immun gegen den Myelinabbau

Weshalb zu viel Speck auf den Rippen das MS-Risiko erhöht, ist noch nicht ganz klar. Zum einen wird vermutet, dass die niedrigen Vitamin-D-Spiegel bei Dicken von Bedeutung sind, zum anderen scheinen Zytokine aus dem Fettgewebe das Immunsystem zu stimulieren und Entzündungsprozesse im Gehirn zu begünstigen. Diese Hypothese wird durch eine Reihe von Experimenten gestützt.

Einer Arbeitsgruppe um Dr. Anne Cross von der Universität in Saint Louis, USA, war vor einiger Zeit aufgefallen, dass zwei Tiere in einem experimentellen MS-Modell unerwarteterweise gesund blieben. Bei diesem Modell werden Mäuse mit Myelin-Proteinen geimpft.

Sie entwickeln darauf eine experimentelle autoimmune Enzephalomyelitis (EAE), die in vielen Aspekten einer MS bei Menschen entspricht. Die meisten MS-Medikamente wurden mithilfe des EAE-Systems entwickelt.

Die Forscher um Cross bemerkten nun, dass die beiden nicht erkrankten Mäuse deutlich dünner waren als die übrigen Artgenossen - sie hatten einen Zahndefekt und konnten daher nicht so viel futtern.

Daraufhin setzten sie eine Gruppe von Mäusen auf Diät, indem sie die tägliche Kalorienzufuhr um 40 Prozent reduzierten. Solche Tiere entwickelten nach der Immunisierung gegen Myelin-Proteine ebenfalls keine oder eine deutlich schwächere EAE, sagte Cross auf dem Kongress in Boston.

Histopathologische Untersuchungen ergaben eine deutlich verringerte Entzündung im Gehirn verglichen mit Mäusen ohne Kalorienreduktion. Die Zahl demyelinisierter und verletzter Axone war sogar um drei Viertel geringer.

Gleichzeitig waren bei den hungernden Mäusen, wie zu erwarten, die Werte für das proinflammatorische Zytokin Leptin reduziert und die Werte für das entzündungshemmende Hormon Adiponektin erhöht.

Beide Zytokine werden vom Fettgewebe gebildet, aber auch von T-Zellen. Sind die Fettspeicher in den Zellen gut gefüllt, wird viel Leptin ausgeschüttet, Dicke haben daher in der Regel erhöhte Leptinwerte. Sind die Fettspeicher hingegen leer, wird verstärkt Adiponektin freigesetzt.

Adioponektin-Therapie verhindert Demyelinisierung

Interessant ist nun, dass auch viele Immunzellen Rezeptoren für die beiden Signalmoleküle exprimieren. Leptin aktiviert dabei offenbar Makrophagen und unterstützt die Produktion proinflammatorischer Botenstoffe wie TNF-alpha sowie Interleukin 12 und 18.

Es fördert die T-Zell-Proliferation und hemmt zugleich die regulatorischen T-Zellen, so Cross. Adiponektin wirkt dagegen in die andere Richtung: Es hemmt die TNF-alpha-und NF-Kappa-B-Synthese von Makrophagen und bremst die Makrophagen-Entwicklung aus myeloischen Vorläuferzellen.

Relativ hohe Leptin- und niedrige Adiponektinspiegel, wie sie in Studien bei MS-Kranken beobachtet werden, deuten zumindest darauf, dass die beiden Botenstoffe auch bei MS von Bedeutung sind. Verstärkt werden solche Hinweise durch Beobachtungen, wonach Mäuse ohne Leptin-Gen oder ohne Leptin-Rezeptoren praktisch immun gegen eine EAE sind.

In einer Reihe von Experimenten konnte das Team um Cross nun die Bedeutung der beiden Adipozyten-Botenstoffe bei demyelinisierenden Erkrankungen weiter erhärten.

Behandelten sie etwa Mäuse mit Adiponektin, ließ sich eine EAE verhindern, hingegen entwickelten Tiere ohne Adiponektin-Gen eine besonders schwere EAE. Eine solche schwere EAE konnten sie auch dann induzieren, wenn sie normalen Mäusen nur die T-Zellen von Tieren ohne Adiponektin-Gen infundierten.

Welche Schlussfolgerungen lassen sich nun daraus ziehen? Offenbar führt Hungern über hohe Adiponektin-Spiegel zur Entschärfung autoaggressiver T-Zellen, dagegen macht Übergewicht die T-Zellen besonders scharf. Stimmt diese Hypothese, dann sollten Dicke weniger stark unter ihrer MS leiden, wenn sie abspecken.

Dieser Effekt könnte gerade bei Frauen mit ihrem höheren Körperfettanteil besonders ausgeprägt sein. Die Forscher um Cross haben daher eine Studie begonnen, in der sie nun übergewichtige Frauen mit MS einer kalorienreduzierten Diät unterziehen.

Auch wenn es noch etwas dauern dürfte, bis die ersten Ergebnisse vorliegen - schaden dürfte das Abnehmen den MS-Kranken wohl kaum.

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