Surfen, bis der Arzt kommt - Klinikprogramm führt Online-Süchtige zurück in die Realität

Online- und Computerspielsüchtige brauchen oft professionelle Hilfe, um ins reale Leben zurückzufinden. In der Kinzigtal-Klinik in Bad Soden-Salmünster finden diese Patienten jetzt ein spezielles stationäres Angebot.

Von Helga Brettschneider Veröffentlicht:
Online-Spieler am Computer. Nicht nur Jugendliche, auch manche Erwachsenen verbringen mehr als zehn Stunden täglich am Rechner. © dpa

Online-Spieler am Computer. Nicht nur Jugendliche, auch manche Erwachsenen verbringen mehr als zehn Stunden täglich am Rechner. © dpa

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Inzwischen gelten bis zu acht Prozent der Web-Nutzer als online-süchtig. Schätzungen für Deutschland belaufen sich auf 1,2 bis über zwei Millionen Menschen. Gefährdet sind viele, denn das Internet ist heute fester Bestandteil des Berufs- und Privatlebens: Einer Erhebung von 2009 zufolge bewegen sich 89 Prozent der 30- bis 39-Jährigen und 95 Prozent der 20- bis 29-Jährigen regelmäßig im Web.

Online-Süchtige verbringen dabei einen Großteil des Tages in Chats, Foren, bei Online-Spielen oder auf Pornoseiten. Unterschieden werden entsprechend Spiel-, Sex- und Kommunikationssucht. Beim Spielen zum Beispiel identifizieren sich die Teilnehmer häufig mit ihrem Avatar, ihrer virtuellen Spielfigur, und können so eine oft als bedrückend erlebte Realität aussperren.

Süchtige verlieren jegliches Zeitgefühl am Computer

Symptome der Online-Sucht sind das unwiderstehliche Verlangen, das Web zu nutzen und der Kontrollverlust über die Nutzungsdauer. Letzteres ist entscheidend. Acht bis zehn Stunden täglich sind häufig, viele schaffen auch 14 Stunden und mehr. Erschöpfung und Leistungsabfall bis zum Verlust des Arbeitsplatzes sind die Folgen. Andere Interessen, sogar Schlaf und Ernährung, werden zunehmend vernachlässigt, ebenso wie Sozialkontakte und Körperhygiene. Studien fanden bei Betroffenen auch gehäuft Merkmale wie Impulsivität, Aggressivität, Feindseligkeit, Reizbarkeit und Hyperaktivität, vor allem bei jungen Männern. Andere Arbeiten nennen Depressionen, Phobien, Angststörungen und Substanzmissbrauch, so Professor Rainer Thomasius von der Uniklinik HamburgEppendorf.

Aber auch familiäre Konflikte nehmen zu: "Die Beziehungsfähigkeit geht verloren", sagt Hans-Werner E., der zehn Jahre lang an Online-Sexsucht litt. Das ist typisch: Etwa 70 Prozent der erwachsenen Online-Süchtigen sind sexsüchtig; davon sind 95 Prozent Männer. Die Sucht bei E. entwickelte sich schleichend, bis er ganze Nächte vor dem Computer saß. Anfangs nahm er das nicht wahr, später war es ihm egal. Als er schließlich eine Therapie suchte, scheiterte er fast: "Es war keiner in der Lage, mit mir darüber zu reden", sagte er bei einer Veranstaltung der Kinzigtal-Klinik in Frankfurt/Main.

Die Klinik konzentriert sich mit ihrem Angebot für Online- und Computerspielsüchtige auf Erwachsene - das sind 80 Prozent der Abhängigen. Die stationäre Behandlung dauert acht Wochen. Sie mildert eine Versorgungslücke, denn stationäre Therapien für diese Patienten sind bislang rar - trotz der vielen Betroffenen. Anders als bei klassischen stoffgebundenen Süchten ist das Ziel aber nicht die völlige Online-Abstinenz, denn die ist in modernen Gesellschaften kaum möglich. Die Betroffenen müssen vielmehr lernen, das Internet kontrolliert zu nutzen. Vorher aber müssen sie erfahren, dass sie auch ohne Web überleben können. Auch dafür ist der stationäre Aufenthalt wichtig, so Dr. Rolf Czwalinna von der Klinik. Zudem lassen sich Entzugserscheinungen besser abfangen.

Online-Süchtige haben oft auch Haltungsschäden

Darüber hinaus leiden die Patienten meist an weiteren Gesundheitsproblemen, die in der Klinik angegangen werden. Depressionen zum Beispiel, Übergewicht, Haltungsschäden, Rückenschmerzen oder Stoffwechselkrankheiten als Folge der sessilen Lebensweise. Physiotherapie für ein besseres Körpergefühl, Kontakt zu Natur und "echten Lebewesen", Entspannungstherapie und verhaltenstherapeutische Einzelgespräche werden eingesetzt. Zentrales Element aber ist die spezielle Onlinesucht-Gruppe. Hier lernen die Betroffenen den Umgang miteinander, so Psychologe Peter Schumacher. Sie unterstützen sich gegenseitig und bauen soziale Kompetenzen auf. Sie erarbeiten Risikofaktoren und die Gründe ihrer Sucht: Was war an der realen Welt so abschreckend und an der virtuellen so anziehend? Und wie können sie nach der Klinik das Rückfallrisiko minimieren?

Weil die Patienten im Alltag ständig der Versuchung ausgesetzt sind, ist diese Rückfallprophylaxe besonders wichtig. Die Kinzigtal-Klinik will deshalb mit ambulanten Beratungsstellen und Selbsthilfeorganisationen zusammenarbeiten. Das Portal www.onlinesucht.de etwa zählt jeden Monat bis zu 180 000 Aufrufe von Hilfe suchenden Patienten und Angehörigen. Die Mitglieder tauschen sich an zeitlich streng limitierten Terminen anonym aus und können sich in einer virtuellen Praxis beraten lassen, so Portalgründerin Gabriele Farke. Die Deutsche Angestellten Krankenkasse unterstützt das Projekt. Weiterer Kooperationspartner ist die Guttempler Fachstelle "Suchtprävention und -therapie" in Frankfurt am Main. Sie ist beratend tätig und kann etwa im Vorfeld prüfen, ob überhaupt eine Onlinesucht besteht und welche Behandlungsmöglichkeiten es gibt, so Psychologe Ulrich Drews. Über die Fachstelle ist später auch die ambulante Weiterversorgung möglich.

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