Sucht ist auch eine Familienkrankheit

Alkoholismus und Drogensucht sind Krankheiten, unter denen die ganze Familie leidet. In Deutschland leben 2,6 Millionen Kinder in Familien, in denen mindestens ein Familienmitglied süchtig ist.

Von Daniela Noack Veröffentlicht:
Wegschauen möchten viele Kinder suchtkranker Eltern, aber das geht nicht. Viele werden still oder würden am liebsten unsichtbar sein.

Wegschauen möchten viele Kinder suchtkranker Eltern, aber das geht nicht. Viele werden still oder würden am liebsten unsichtbar sein.

© libond/fotolia.com

BERLIN. "Verwandte und professionelle Helfer stürzen sich geradezu auf den Süchtigen, ohne Sensibilität für die Probleme der Kinder", sagt Henning Mielke, Organisator der Strategie-Konferenz "Hilfe hat viele Gesichter" und Vorsitzender von NACOA Deutschland, einer Interessenvertretung für Kinder aus Suchtfamilien. "Ein falscher Ansatz", erklärte Jerry Moe, Leiter des Kinderprogramms im Betty Ford Center in Kalifornien. Seit 32 Jahren arbeitet der ehemalige Lehrer mit Kindern und Jugendlichen süchtiger Eltern.

Vor dem Hintergrund, dass in den USA nur zehn Prozent aller Süchtigen professionelle Unterstützung in Anspruch nehmen oder Selbsthilfegruppen besuchen, könne man die Kinder nicht einfach ihrem Schicksal überlassen. Häufig seien diese sehr still, fast unsichtbar.

Sie fühlen sich alleingelassen, sind verängstigt und verwirrt. Sie glauben, alles sei ihre Schuld. Sie haben im wahrsten Sinne des Wortes ihr Päckchen zu tragen. Dabei tragen sie nicht nur die eigene Last, sondern auch die der Eltern und früherer Generationen.

Bekommen die Kinder keine Hilfe, suchen viele von ihnen selbst Erleichterung durch Alkohol- und Drogenkonsum. "Viele fühlen sich zum ersten Mal ‚normal‘, wenn sie high sind", berichtet Moe. Deshalb müsse möglichst früh geholfen werden. Ein positiver Nebeneffekt: "Steigt ein Familienmitglied aus dem Teufelskreis aus, erhöhen sich die Chancen, dass auch der Abhängige nachzieht."

Sis Wenger von der amerikanischen National Association for Children of Alcoholics (NACOA) weiß, was passiert, wenn Kinder keine Hilfe bekommen: "Der chronische emotionale Stress, dem sie ausgeliefert sind, führt zu diversen gesundheitlichen Problemen." Das beweise auch die Langzeitstudie ACE (Adverse Childhood Experiences), in der 17 000 Teilnehmer mit schwieriger Kindheit (Eltern suchtkrank, psychisch krank, gewalttätig oder kriminell) über zehn Jahre begleitet wurden.

Diese Personengruppe beging öfter Selbstmord, wurde selbst suchtkrank, entwickelte leichter psychiatrische oder andere schwere Erkrankungen wie Krebs, Herz- und Lungenerkrankungen. Deshalb wird inzwischen Kinderärzten in den USA empfohlen, mit bestimmten Fragen dem Suchtverhalten der Eltern auf die Spur zu kommen. In Deutschland ist man noch nicht so weit.

"Viele Ärzte könnten im Bereich der Frühintervention noch eine Menge dazulernen", meint Edelhard Thoms, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Leipziger Parkkrankenhaus. Als Mitglied der Suchtkommission der Kinder- und Jugendpsychiater setzt er sich dafür ein, dass ein entsprechender Fragenkatalog (SDQ Strengths and difficulties questionnaire), Teil der Vorsorgeuntersuchungen bei den Kinderärzten wird. So könnten Kinder mit hohen psychosozialen Belastungen herausgefiltert werden. Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache. 40 Prozent der süchtigen 11- bis 18-Jährigen, die Thoms behandelt, haben zumindest ein suchtkrankes Elternteil.

Experten sind sich einig: Kinder aus Suchtfamilien brauchen kontinuierlich Hilfe, damit sie nicht eines Tages in die Fußstapfen der Eltern treten. Die Teilnehmer der Berliner Strategie-Konferenz wünschten sich deshalb, dass das Thema Kinder aus Suchtfamilien künftig in die ärztliche Weiterbildung aufgenommen wird.

Weitere Informationen:

www.nacoa.de bietet umfangreiche Informationen über Hilfsangebote, Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen. Sie ist geeignet für Kinder, Lehrer, Erzieher und Eltern. www.encare.de Encare, europäisches Netzwerk für Fachleute www.bzga.de Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung Kostenloses Not-Telefon für Kinder suchtkranker Eltern "Sucht- und Wendepunkt". Tel: 0800/2802801 Mo. - Fr. 17 bis 23 Uhr, Wochenenden und Feiertage rund um die Uhr

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