Leitartikel zum Alkoholkonsum

Das Problem mit der Suche nach der Sucht

Mehr als ein Bier pro Tag trinkt nur jeder siebte Erwachsene in Deutschland - das legt ein neuer Suchtsurvey nahe. Wenn das stimmt, stellt sich die Frage: Wo geht all der Alkohol hin, der in Deutschland verkauft wird?

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Die in Deutschland verkauften Alkoholika entsprechen einem täglichen Konsum von 28 g reinem Alkohol, und zwar von allen Erwachsenen sowie allen Jugendlichen ab 15 Jahre.

Die in Deutschland verkauften Alkoholika entsprechen einem täglichen Konsum von 28 g reinem Alkohol, und zwar von allen Erwachsenen sowie allen Jugendlichen ab 15 Jahre.

© runzelkorn / fotolia.com

Das fünfte Bier in der Hand, lässig eine Kippe im Mundwinkel - für viele Jugendliche und junge Erwachsene ist das immer noch cool.

Sie sehen kein Problem darin, jedes Wochenende einen über den Durst zu trinken, und geben das oft auch freiwillig zu. Das sollte man im Hinterkopf haben, wenn man Zahlen zum Suchtverhalten der Bevölkerung liest, die lediglich auf subjektiven Angaben zum Trinkverhalten basieren.

Denn es gehört gerade für manchen werdenden Mann zum Image, dass ihn keiner so schnell unter den Tisch trinkt. Von einem 50-Jährigen wird man jedoch kaum hören, dass er stolz auf seinen hohen Alkoholkonsum ist. Dem ist das eher peinlich.

Aus solchen Gründen sind die Ergebnisse des vor Kurzem veröffentlichten Epidemiologischen Suchtsurveys (ESA) mit äußerster Vorsicht zu genießen: Der Survey hat mitnichten die Trinkgewohnheiten und erst recht nicht den Alkoholkonsum der Bevölkerung in Deutschland erfasst (Sucht 2013; 59: 321).

Der Bericht gibt lediglich wieder, was die Menschen in diesem Land glauben oder auch nur vorgeben, an Alkohol, Tabak und illegalen Drogen zu konsumieren, und nicht das, was sie tatsächlich an psychoaktiven Substanzen inhalieren oder in sich hineinschütten.

Bier zum Rasen düngen, Schnaps zum Fenster putzen?

Zwischen Glauben und Wirklichkeit klafft aber oft eine große Lücke, und je problematischer das Thema ist, um so größer ist diese.

Beim Alkoholkonsum lässt sich die Lücke sogar recht genau beziffern: Die Forscher um Alexander Papst vom Institut für Therapieforschung in München haben beim aktuellen ESA für das Jahr 2012 einen durchschnittlichen Alkoholkonsum von gerade mal zwölf Gramm pro Tag und Person erfragt - so viel ist in einem Glas Bier.

Schaut man jedoch, wie viel Alkohol in Deutschland produziert und verkauft wird, dann müsste nach Berechnungen der WHO eigentlich jeder über 15 Jahren pro Tag 28 Gramm reinen Alkohol trinken, also mehr als das Doppelte (WHO: Global Status Report on Alcohol and Health 2011: Europe).

Es sei denn, das meiste Bier wird gekauft, um den Rasen zu düngen, und der Schnaps nur, um die Fenster zu putzen. Das mag sich aber niemand so recht vorstellen.

Der WHO-Bericht bestätigt damit in gewisser Weise, was vielen Ärzten längst klar ist: Dass man die Angaben von Patienten zu ihrem Alkoholkonsum in der Regel mal zwei nehmen muss.

Leberwerte wären besser als subjektive Angaben

Entsprechend dürften auch die ESA-Zahlen zum kritischen Alkoholkonsum weit untertrieben sein: Nur jeder siebte Mann trinkt mehr als eine Flasche Bier pro Tag und liegt damit im kritischen Bereich?

Nach den WHO-Zahlen müsste der durchschnittliche Mann in Deutschland jeden Tag die Alkoholmenge von zwei Flaschen Bier in sich hineingießen. Kaum vorstellen kann man sich auch, dass nur 3,4 Prozent alkoholabhängig sind.

Um einen riskanten Alkoholkonsum zu ermitteln, wäre es sicher sinnvoller, in einer Bevölkerungsstichprobe die Leberwerte zu messen, statt die Leute nach ihrer Einschätzung zu fragen.

Entsprechend verzerrt dürften auch die Angaben zur Rate der Alkoholabhängigen sein: Die ESA-Daten legen einen Alkoholmissbrauch oder gar eine Abhängigkeit bei mehr als zwölf Prozent der 18- bis 20-Jährigen nahe, bei den über 50-Jährigen sind es plötzlich weniger als fünf Prozent.

Entwöhnen sich die jungen Erwachsenen mit der Zeit selbst oder steht uns bald eine Welle Alkoholkranker bevor?

Vielleicht zeigt auch der Blick in diverse Suchtkliniken, dass an den Zahlen etwas nicht stimmen kann. Dort dürften Alkoholkranke unter 20 Jahren eher in der Minderheit sein.

Die Erklärung könnte schlicht darin liegen, dass aus den anfangs erwähnten Gründen junge Menschen nicht nur tatsächlich mehr trinken, sondern ihren Alkoholkonsum auch freimütiger zugeben, weil sie daran noch nichts Schlimmes finden, während der 50-jährige Alkoholiker nicht wahrhaben will, dass er ein Problem hat, das sein Leben zerstört.

Imagewandel beim Rauchen gelungen

Immerhin - in einem Punkt liegen die ESA- und WHO-Daten auf einer Linie: Der Alkoholkonsum geht in Deutschland seit Jahren kontinuierlich zurück - von etwa 14 Liter reinem Alkohol pro Kopf und Jahr zu Beginn der 1990er-Jahre auf nunmehr etwa 12 Liter (WHO Europe: Status Report on Alcohol and Health in 35 European Countries 2013).

Über die Gründe lässt sich nur spekulieren. Möglicherweise hat ein Gesinnungswandel eingesetzt: In vielen Firmen war es vor drei Jahrzehnten noch normal, während der Arbeitspausen Alkohol zu trinken, und auch betrunken mit dem Auto durch die Gegend zu eiern, zählte eher als Kavaliersdelikt. Daran hat sich zum Glück einiges geändert.

Sich zu betrinken ist heute viel eher ein Tabu, und das ist ein Punkt, an dem sich ansetzen lässt. Ob an der Steuerschraube zu drehen ein probates Mittel ist, um den Konsum zu bremsen, darf man bezweifeln.

In Skandinavien haben hohe Alkoholsteuern vor allem dazu geführt, dass viele ihren Wein und Schnaps selbst gären und brennen - in Schweden stammt nach den WHO-Daten ein Drittel des Alkohols aus eigener Herstellung.

Effektiver dürften Regelungen sein, die exzessiven Alkoholkonsum sanktionieren. Eine niedrigere Promillegrenze beim Autofahren und höhere Strafen bei Alkoholfahrten schrecken stärker ab als hohe Preise für Alkoholika.

In ähnlicher Weise dürfte ein verstärkter Nichtraucherschutz zu einer anderen Entwicklung beigetragen haben: So ist die Zahl der Raucher in den vergangenen 30 Jahren deutlich zurückgegangen, bei den jungen Erwachsenen hat sie sich sogar von 60 auf 30 Prozent halbiert.

Hier scheint der Imagewandel gelungen: Nur noch die wenigsten finden Rauchen cool.

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