"Schmerzstärke wird oftmals völlig falsch eingeschätzt"

Schmerzen bei älteren Patienten richtig zu diagnostizieren ist eine Herausforderung: So hat bereits jeder dritte über 85jährige eine mittelschwere Demenz und kann oft keine sinnvollen Angaben darüber machen, ob er Schmerzen hat und wie stark diese sind. Bei Patienten mit schweren Demenzen oder anderen fortgeschrittenen Erkrankungen, bei denen die Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt ist, sind die Ärzte dann auf die Beobachtungen von Angehörigen oder dem Pflegepersonal angewiesen.

Veröffentlicht:

Andrej Zeyfang

Immer mehr Menschen werden immer älter - und kränker. Die demographische Entwicklung in den Industrienationen führt zu einer stetigen Zunahme an multimorbiden und in den Alltagsaktivitäten eingeschränkten älteren Menschen.

Diese leiden häufig unter schmerzhaften Erkrankungen des Bewegungsapparates wie Osteoarthrosen oder Wirbelsäulenerkrankungen, Neuropathien oder anderen Schmerzsyndromen. 60 bis 80 Prozent der über 60jährigen haben persistierende Schmerzen.

Kognitive Einschränkungen oder Demenzen in dieser Altersgruppe erschweren die Schmerzdiagnose. Bereits jeder dritte über 85jährige hat eine mittelschwere Demenz und kann oft keine sinnvollen Angaben darüber machen, ob er Schmerzen hat und wie stark diese sind. Doch auch diese Patienten benötigen eine adäquate Schmerztherapie. Bereits 1975 wurde in einer Studie nachgewiesen, daß sie bei Schmerzen genauso wie jüngere oder Nicht-Demenzkranke leiden.

"Wer jenseits der 70 morgens ohne Schmerzen aufwacht ist meist tot!", bekommen Ältere oft zu hören. Gerade bei älteren Menschen wird die Schmerzstärke oftmals vollkommen falsch eingeschätzt - nicht zuletzt dadurch bedingt, daß ältere Menschen ihre eigenen Schmerzen herunterspielen und fest daran glauben, daß diese zum Alter dazugehören. Deshalb reden sie über ihre Schmerzen zwar mit ihren Nachbarn, nicht aber mit ihrem Arzt.

Patienten sollten immer nach Schmerzen befragt werden

Um ein Schmerzsyndrom bei Demenz-Patienten nicht zu übersehen, gilt es einiges zu beachten. Die Einschätzung der Schmerzen durch die Patienten selbst ist die beste Möglichkeit, Vorliegen, Lokalisation und Intensität der Schmerzen zu erfassen. Daher sollten Sie also immer ihre Patienten nach Schmerzen fragen. Bei Personen mit leichter und mittlerer kognitiver Einschränkung (21 bis 30 von insgesamt 30 erreichbaren Punkten im Mini-Mental Test) können Sie so häufig viele Informationen bekommen. Lassen Sie ihrem Patienten Zeit und umschreiben Sie den Begriff Schmerz auch mit anderen (zum Beispiel mundartlichen) Begriffen.

Doloplus-Skala hilft Pflegenden bei der Schmerzeinschätzung

Somatische Parameter

  • Verbaler Schmerzausdruck
  • Schonhaltung in Ruhe
  • Schutz von schmerzhaften Körperzonen

Psychomotorische Parameter

  • Mimik
  • Schlaf
  • Waschen und Ankleiden
  • Bewegungen / Mobilität

Psychosoziale Parameter

  • Kommunikation (verbal / nonverbal)
  • Soziale Aktivitäten
  • Verhaltensstörungen

Jeder Parameter kann mit 0 bis 3 Punkten bewertet werden. Insgesamt können maximal 30 Punkte erreicht werden. Ab = 5 Punkten ist von Schmerzen auszugehen.

Die Doloplus-Skala ist ein Instrument zur Beurteilung von Schmerzen bei Älteren.

Diese Angaben können oft bereits eine Zuordnung zur Genese, zum zeitlichen Auftreten sowie eine Quantifizierung der Schmerzen ermöglichen. Goldstandard für die Beurteilung der Schmerzstärke ist die visuelle Analogskala (VAS), die jedoch bei älteren Menschen nicht so einfach eingesetzt werden kann. Denn trotz Erklärung sind viele Ältere nicht in der Lage, die VAS korrekt zu bedienen.

Sofern es die kognitiven und feinmotorischen Fähigkeiten des Patienten ermöglichen, kann nach sorgfältiger Erklärung der Handhabung am einfachsten ein Schieber eingesetzt werden, bei dem eine rote Säule vertikal in die Höhe geschoben werden kann, im Sinne eines "Schmerzthermometers".

Bei kognitiv nicht beeinträchtigten Menschen ist das Befragen mit einer verbalen Rating Skala (VRS; keine, leichte, starke oder sehr starke Schmerzen) sinnvoll. Numerische Rating Skalen (NAS, von 0 [kein Schmerz] bis 10 [unerträgliche Schmerzen]) oder Smiley-Skalen, wie sie in der Pädiatrie eingesetzt werden, haben sich aus unserer Erfahrung bei älteren, kognitiv eingeschränkten Patienten nicht bewährt.

Bei schwerer Demenz können Pflegepersonen Auskunft geben

Bei Patienten mit schweren Demenzen oder anderen fortgeschrittenen Erkrankungen, bei denen die Kommunikationsfähigkeit beeinträchtigt ist, müssen die Beobachtungen von Angehörigen oder dem Pflegepersonal die eigenen Angaben ergänzen oder ersetzen.

ECPA*-Skala, um Schmerzen bei älteren Pflegebedürftigen zu erkennen

Verhalten außerhalb der Pflege

  • Verbale Äußerungen: Stöhnen, Klagen, Weinen, Schreien
  • Gesichtsausdruck: Blick und Mimik
  • Spontane Ruhehaltung

Verhalten während der Pflege

  • Ängstliche Abwehr bei Pflege
  • Reaktionen bei der Mobilisation
  • Reaktionen während der Pflege von schmerzhaften Zonen
  • verbale Äußerungen während der Pflege

Auswirkungen auf die Aktivität

  • Appetit
  • Schlaf
  • Bewegungen
  • Kommunikation / Kontaktfähigkeit

Für jeden Parameter können 0 bis 4 Punkte vergeben werden. Insgesamt können maximal 44 Punkte erreicht werden. Die ECPA hat keinen Schwellenwert, sondern dient der Verlaufsbeurteilung.

Schmerzen sollten in der Phase der Dosisfindung einer analgetischen Therapie täglich beurteilt werden.

Die Reaktionen auf Schmerzen können verbaler Art sein, etwa Stöhnen, Jammern oder Schreien. Genauso wichtig ist die Beobachtung von nonverbalen Äußerungen wie Grimmassieren, Unruhe oder Schonhaltungen. Hierdurch kann manchmal auch die Lokalisation der Schmerzursache möglich sein. Bei neu auftretenden Schmerzen ist eine genaue Untersuchung erforderlich, um Ursachen wie einen Harnverhalt oder Ileus nicht zu übersehen. Manchmal zeigt sich bei vermuteten Schmerzzuständen dementer Patienten nach Gabe von Analgetika eine so dramatische Verbesserung, daß sich ex juvantibus ein Schmerzzustand sicher feststellen läßt.

Mit der Erkenntnis, daß sich das Verhalten dementer Patienten bei Schmerzen ändert, wurde für die sichere Erkennung, Quantifizierung und Verlaufsbeurteilung in Frankreich die ECPA (Echelle comportementale de la douleur pour personnes âgées communicantes ou non communicantes) entwickelt.

So lassen sich Schmerzen beurteilen

  • Selbsteinschätzung
  • Pathologische Zustände und Prozeduren, die normalerweise Schmerzen verursachen
  • Verhaltensmerkmale (Mimik, Bewegung oder Weinen)
  • Schmerzeinschätzung durch Angehörige

Die Einschätzung durch die Patienten selbst ist die beste Möglichkeit, Schmerzen zu erfassen.

Die ECPA beobachtet das Verhalten unter drei Kriterien: außerhalb und während der Pflege sowie die Auswirkung auf Aktivitäten. Insgesamt werden elf Parameter berücksichtigt, für die jeweils 0 bis 4 Punkte, also maximal 44 Punkte vergeben, werden. Dabei bedeuten 0  Punkte keinen Schmerz und 44 Punkte stärkste Schmerzen. Die Beurteilung kann sowohl durch Pflegepersonal als auch durch Angehörige erfolgen und ist sehr valide und erfordert einen Zeitaufwand von nur wenigen Minuten.

Die Schmerzbeurteilung mit der ECPA ermöglicht eine Verlaufsbeurteilung. Sie sollte in der Phase der Dosisfindung einer analgetischen Therapie häufiger - zumindest täglich - erfolgen, bei stabiler Situation in festen Abständen, zum Beispiel wöchentlich.

Ein anderes auf der pflegerischen Beobachtung basierendes Instrument zur Beurteilung von Schmerzen bei Älteren ist der Doloplus, der somatische, psychomotorische und psychosoziale Aspekte berücksichtigt. Insgesamt werden zehn Parameter abgefragt, für die jeweils 0 bis 3 Punkte vergeben werden. Erreicht der Patient mindestens fünf Punkte, hat er Schmerzen. Unter www.doloplus.com kann eine französische oder englische Version heruntergeladen werden.

Multimodale Schmerztherapie

Die Schmerztherapie bei dementen Menschen kann durchaus gleiche Basismaßnahmen beinhalten wie bei kognitiv Unbeeinträchtigten: Physikalische Therapie, Wärme und Zuwendung.

Bei der medikamentösen Schmerztherapie älterer Menschen mit Demenz sind im wesentlichen die gleichen Prinzipien zu beachten, wie bei anderen Schmerzpatienten: möglichst orale Therapie nach dem WHO-Stufenschema, bei persistierenden Schmerzen Einnahme zu festen Uhrzeiten. Allerdings sind die bei älteren Menschen veränderten pharmakodynamischen Eigenschaften und Interaktionen zu beachten.

Knochen- oder Gelenkschmerzen lassen sich am besten mit NSAR oder einem Coxib lindern - bei NSAR sollte immer ein Protonenpumpenhemmer zur Prävention gastro-intestinaler Komplikationen gegeben werden! Auch Metamizol (etwa Novalgin®) ist geeignet, allerdings muß es aufgrund der kurzen Halbwertszeit ebenso wie Paracetamol (etwa ben-u-ron®) drei- bis viermal täglich gegeben werden.

Das Risiko der aplastischen Anämie ist bei Metamizol zwar vorhanden, jedoch gering. Von Vorteil ist die fehlende ZNS-Beeinträchtigung sowie die gastro-intestinale Unbedenklichkeit.

Grundsätzlich gilt bei der Therapie mit einem Opioid: Start low, go slow, don’t stop too low. Mit einer initial niedrigen Dosis vermeidet man unerwünschte Wirkungen, zum Beispiel Stürze aufgrund von Sedierung oder Schwindel, wie sie besonders in der Startphase auftreten können.

Wichtig ist auch die zusätzliche Gabe eines Laxans zur Obstipationsprophylaxe sowie bei Übelkeit der Einsatz eines Antiemetikums wie Metoclopramid (etwa Paspertin®) oder Haloperidol (etwa Haldol®). Haloperidol hat bereits in kleinsten Dosen eine gute antiemetische Wirkung.

Sind niederpotente Opioide wie Tramadol (etwa Tramal®) oder Tilidin (etwa Valoron® N) in der Standarddosierung nicht ausreichend, sollte unbedingt auf ein hochpotentes Opioid umgestellt werden. Dann sollte noch stärker auf zentrale Nebenwirkungen geachtet werden. Eine sedierende Wirkung kann sich bei Demenzpatienten unter anderem in der Zunahme einer Schluckstörung äußern, Koprostase oder Harnverhalt können auftreten, oder es kann zu deliranten und agitierten Zustandsbildern kommen.

Eine zunächst vorsichtige Dosisfindung mit kurzwirksamen oral verabreichten Opioiden kann hier hilfreich sein, dann sollte auf ein retardiertes orales oder transdermales Präparat gewechselt werden.

Aber auch die Komedikation ist von Bedeutung. ACE-Hemmer oder Schleifendiuretika plus ein NSAR können die Nierenfunktion rasch bis hin zum akuten Nierenversagen beeinträchtigen. Bei Einsatz eines trizyklischen Antidepressivums plus eines Benzodiazepins plus eines Opioids ist Somnolenz oder ein Delir programmiert!

Bei der Komedikation ist besonders darauf zu achten, daß nicht mit zu vielen zentral wirksamen Substanzen behandelt wird. Es ist sicher sinnvoll, eine konkomitierende Depression bei dementen Patienten mit Schmerzen zu behandeln. Dann aber möglichst nicht mit anticholinergen Substanzen (Trizyklika), sondern mit neuen Antidepressiva wie den Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) oder Mirtazapin (etwa Remergil®).

Dann kann man sogar vom adjuvanten schmerzlindernden Effekt dieser Substanzen profitieren. Der Einsatz von Benzodiazepinen als reinen Hypnotika oder Anxiolytika ist bei der Schmerztherapie von dementen Patienten nicht sinnvoll. Außer der Abhängigkeit besteht hier die Gefahr der paradoxen Reaktion.

Nächtliche Schmerzen, besonders bei neuropathischen Schmerzen, können mit Antiepileptika wie Gabapentin (etwa Neurontin®), Pregabalin (Lyrica®) oder Carbamazepin (etwa Tegretal®) gelindert werden. Zudem können sie Symptome wie nächtliche Unruhe deutlich bessern.

Auch Neuroleptika wie Haloperidol, Pipamperon (etwa Dipiperon®) oder Chlorpromazin (Propaphenin®) sind bei Unruhe eine Option. Allerdings muß man sich darüber im Klaren sein, daß diese Substanzen zwar verhaltensauffällige Demenzpatienten ruhigstellen können, ihnen nicht aber die Schmerzen und subjektiven Beeinträchtigung nehmen können. Deshalb sollten die Patienten wegen Verhaltensauffälligkeiten erst dann mit diesen Neuroleptika behandelt werden, wenn Schmerzen als Ursache ausgeschlossen sind.

Dr. Dr. Andrej Zeyfang, Bethesda Geriatrische Klinik Ulm, Zollernring 26, 89073 Ulm, Tel.: 0731 / 187-187, Fax: 187-387, E-Mail: andrej.zeyfang@bethesda-ulm.de

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