Interview mit Geriater

Schmerz im Alter muss nicht sein

Schmerzen im Alter sind normal, denken viele. Weit gefehlt, kontert Akutgeriater PD Dr. Matthias Schuler. Im Interview spricht er über diagnostische Herausforderungen und Besonderheiten der Schmerztherapie bei Senioren.

Von Dr. Elke Oberhofer Veröffentlicht:

Privatdozent Dr. Matthias Schuler

Schmerz im Alter muss nicht sein

© sbra

Aktuelle Position: Leitender Arzt der Akutgeriatrie am Diakoniekrankenhaus Mannheim.

Beruflicher Werdegang: 1987 - 1994 Assistenzarzt am Kreiskrankenhaus Weinheim; 1994 Facharztprüfung Innere Medizin; 1994-1995 Facharzt an der Schmerzambulanz der Uni Heidelberg; 1995-2005 Oberarzt am Bethanien-Krankenhaus, Geriatrisches Zentrum der Universität Heidelberg; 1999 Zusatzbezeichnung spezielle Schmerztherapie; 2008 Habilitation.

Schwerpunkte: u.a. Demenz, Palliativmedizin, Schmerz.

Ärzte Zeitung: Herr Dr. Schuler, wie erkennen Sie bei einer dementen 80-jährigen Patientin, die häufig stöhnt, ob sie tatsächlich unter Schmerzen leidet?

PD Dr. Matthias Schuler: Der erste Schritt ist, die Patientin trotz aller vermuteten Einschränkungen zu befragen. Selbst relativ schwer kognitiv beeinträchtigte Menschen können die Frage, ob Schmerzen vorliegen, oft noch mit ja oder nein beantworten.

Allerdings fallen Angaben zur Schmerzintensität oft schon bei leichten kognitiven Einschränkungen schwer. Hier hat sich eine Viererskalierung bewährt: kein Schmerz, schwacher Schmerz, mäßig starker Schmerz, starker Schmerz. Von meiner geriatrischen Klientel schaffen es ungefähr 70 Prozent, sich einen entsprechenden Begriff herauszupicken.

Und wenn die kognitive Beeinträchtigung schon zu weit fortgeschritten ist?

Schuler: Dann lassen sich über Verhaltensbeobachtungen Rückschlüsse ziehen. Es gibt z. B. eine sehr spezifische Schmerzmimik: die rümpfende Nase, die Falte zwischen den Augenbrauen, die sich zunehmend kontrahiert, die Augen, die sich mehr als einen Wimpernschlag lang zusammenziehen. Hier scheint es deutliche Unterschiede beispielsweise zu depressivem oder aggressivem Verhalten zu geben.

Lässt sich aus der Mimik auch ablesen, wie stark der Schmerz ist?

Schuler: Ob man über Verhaltensausprägungen auf Schmerzintensität Rückschlüsse ziehen kann, wird wissenschaftlich aktuell untersucht und kontrovers diskutiert. Man stützt sich dabei nicht nur auf die Mimik, sondern z. B. auch auf die Verbalisierung, die Lautäußerung und auf die Körpersprache.

Ist letztere z. B. angespannt oder aggressiv? Kann man einen Menschen beispielsweise durch Zuwendung aus seinem auffälligen Verhalten auslenken? Im deutschsprachigen Raum haben drei Instrumente eine gewisse Evidenz: Das BESD-Instrument (Beurteilung von Schmerzen bei Demenz), die BISAD-Skala (Beobachtungsinstrument für das Schmerzassessment bei alten Menschen mit Demenz) und die Doloplus-Skala.

Für BISAD und Doloplus sollte man den Menschen gut kennen. BESD dagegen bezieht sich weniger auf Veränderungen des Verhaltens und ist deshalb auch anwendbar, wenn man den Patienten nicht kennt, z. B. bei einer Aufnahmesituation im Krankenhaus. Mit BESD und wahrscheinlich auch den anderen Beobachtungsinstrumenten lassen sich außerdem die Auswirkungen einer Schmerztherapie gut erkennen und dokumentieren.

Wie finden Sie beim kognitiv stärker eingeschränkten Patienten heraus, wo der Schmerz lokalisiert ist?

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Schuler: Beispielsweise bekommt man durch reflexartiges Verhalten, also Hinfassen an gewisse Stellen, Hinweise auf die Lokalisation. Bei den häufigen muskuloskelettalen Schmerzerkrankungen im Alter ist es auch hilfreich, Menschen in einer Bewegungssituation zu beobachten.

Ein britisches Forscherteam hat vorgeschlagen, den Patienten aus der Reserve zu locken, indem man ihn Geschichten erzählen lässt (BMC Geriatrics 2012; 12: 78).

Schuler: Die Crux an der Sache ist der Zeitaufwand. Grundsätzlich gilt aber: Je länger man sich auf den Patienten einlassen kann, desto bessere Informationen wird man bekommen. Einem älteren Menschen fällt es relativ schwer, seine Beschwerden kurz und knapp zu kommunizieren.

Da mag es sinnvoll sein, zu fragen, warum er nicht mehr einkaufen geht, warum es ihm so schwer fällt, die Treppe hinunterzukommen. Dann stellt sich vielleicht heraus, es ist, weil ihm die Knie wehtun.

Viele halten es ja für ein "normales" altersbedingtes Phänomen, dass man nicht mehr die Treppe runterkommt.

Schuler: So ist es. Daher ist es sicher ein guter Ansatz, den Patienten aufzufordern, über seinen Lebensrhythmus zu erzählen. Damit bekommt man nicht nur in Bezug auf den Schmerz einen sehr viel tieferen Einblick. Vor allem aber gilt: Alter ist kein Analgetikum!

Sollte man routinemäßig alle älteren Menschen nach Schmerzen befragen?

Schuler: Ja, weil Schmerz im Alter ein sehr häufiges Problem ist. Je älter die Patienten werden, je stärker kognitiv und funktionell beeinträchtigt, desto seltener sprechen sie spontan über ihre Schmerzen. Hierfür gibt es zwei Hauptgründe: Zum Einen sind Schmerz und Alter auch im Gedankengut der Patienten selbst sehr stark verknüpft. Es gehört quasi dazu, im Alter immer etwas Schmerzen zu haben.

Zum Zweiten ist da die Angst vor der Therapie und vor deren Nebenwirkungen. Aber auch die Assoziation "Es geht mit mir zu Ende" wird beschrieben. Da gibt es zum Beispiel den "Verdränger", der nichts von der Begrenztheit seines Lebens wissen will und deswegen die Schmerzen gar nicht ganz geklärt haben möchte.

Besteht bei routinemäßiger Befragung nicht auch die Gefahr der Überdiagnostik?

Schuler: Es ist die Kunst des Therapeuten, richtig zu interpretieren: Ist das jetzt eine depressive Stimmungslage mit einer leichten Schmerzsymptomatik oder ein schwerer Schmerz mit einer konsekutiven depressiven Verstimmtheit? Im ersten Fall wird man vielleicht erst die depressive Stimmungslage therapieren, um dann zu sehen, was vom Schmerz übrigbleibt.

Im anderen Fall ist eine gute Schmerztherapie die Voraussetzung, damit die Stimmung besser wird. Hier muss man den richtigen Schwerpunkt legen. Bei Älteren spielt ja häufig auch die Problematik der Multimedikation mit hinein. Wenn man für jedes Beschwerdebild ein Medikament zückt, führt man unter Umständen nicht eine Besserung herbei, sondern eine Verschlechterung, weil die Interaktionen und Nebenwirkungen nicht mehr beherrschbar sind.

Was muss man beachten, wenn man einem 80-Jährigen ein Analgetikum verschreibt?

Schuler: Prinzipiell ist die Dosierung niedriger zu wählen als bei Patienten im mittleren Alter. Zunächst muss man den Patienten informieren, was man gibt. Zur Verschreibung eines Opioids gehört z. B. die Information, dass dies zu Nebenwirkungen führen kann, dass diese vor allem durch zu hohe Dosierungen in der Anfangsphase verursacht werden können, dass Opioide aber nicht organtoxisch sind.

Der Patient sollte auch wissen, dass er die Opioidtherapie nicht zwingend lebenslang fortführen muss. Sind die Schmerzen weg, kann man das Medikament vielleicht sogar wieder absetzen. Die medikamentöse Therapie erfolgt aber in aller Regel nicht nach Bedarf, sondern nach Wirkdauer und dann regelmäßig. Eine "Schaukeltherapie", mal nehmen und mal nicht, ist bei chronischen Schmerzproblemen eher ungeeignet.

Vor allem bei den Opioiden spielt ja auch die Sturzgefahr eine Rolle.

Schuler: Kurz wirksame Opioide erhöhen in den ersten 14 Tagen die Sturzgefahr. Bei Opioiden in retardierter Form ist das Sturzrisiko nicht so ausgeprägt, daher sollte man mit diesen anfangen.

Mit welchen nicht medikamentösen Maßnahmen kann man die Schmerztherapie unterstützen?

Schuler: Lagerungsmaßnahmen, Wärme, Kälte, Bandagen etc. sind einige Maßnahmen, die kaum Nebenwirkungen haben, wenn man sie richtig anwendet. Vielen geriatrischen Patienten hilft es enorm, wenn man soziale Probleme angeht oder auch versorgende Angehörige in die Therapie integriert.

Beim Konzept der multimodalen Schmerztherapie kommt es nicht nur darauf an, die Medikation hoch und runter zu deklinieren, sondern die Patienten spezifisch zu trainieren und gleichzeitig die psychosozialen Probleme zu bearbeiten.

Auch der akute Schmerz sollte übrigens nicht reflexhaft nur mit einem Analgetikum behandelt werden. Manchmal hilft Wärmeanwendung oder eine physiotherapeutische Intervention mehr.

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