HINTERGRUND

Deutsche scheuen Analgetika-Selbstmedikation und fragen im Zweifel lieber Arzt und Apotheker

Philipp Grätzel von GrätzVon Philipp Grätzel von Grätz Veröffentlicht:
Deutsche sind Schmerzmitteln gegenüber eher skeptisch.

Deutsche sind Schmerzmitteln gegenüber eher skeptisch.

© Foto: Klaro

Kontrollierte Studien zur Verwendung ärztlich verordneter Triptane bei Migräne, von Opioiden bei Tumorschmerz oder von NSAR bei Rheumapatienten gibt es wie Sand am Meer. Viel weniger bekannt ist, in welchem Umfang und auf welche Art und Weise Menschen frei verkäufliche Schmerzmittel bei alltäglichen, nicht chronischen Schmerzbeschwerden einsetzen. Eine europaweite epidemiologische Studie hat sich dieser Fragestellung angenommen und erlaubt jetzt einen Vergleich des Selbstmedikationsverhaltens in acht europäischen Ländern.

An der repräsentativen Untersuchung, die vom Unternehmen Reckitt Benckiser bei dem Meinungsforschungsinstitut TNS Infratest in Auftrag gegeben wurde, sind in Deutschland, Russland, Italien, Spanien, Frankreich, Belgien, Großbritannien und Polen jeweils über tausend Bürger per Internet oder in direkten Interviews befragt worden. "Das ist die größte internationale Befragung zum Umgang mit banalen Schmerzen, die es bisher in Europa gegeben hat. Und sie hat einige sehr interessante Resultate gebracht", hat Professor Stefan Evers von der Klinik für Neurologie am Universitätsklinikum Münster berichtet.

Kopfschmerzen sind häufigster Grund für Analgetika-Einnahme

Erwartungsgemäß werden frei verkäufliche Schmerzmittel vor allem bei Erkältung, Kopfschmerzen, Rückenschmerzen und menstruellen Beschwerden eingesetzt. Europaweit gaben 38 Prozent der Befragten an, einmal im Vierteljahr oder häufiger Schmerzmittel wegen Erkältungskrankheiten einzunehmen. Immerhin 67 Prozent erreichen diese Einnahmefrequenz bei Kopfschmerzen und 60 Prozent bei Rückenschmerzen. Jeder fünfte Befragte nimmt mindestens dreimal im Monat frei verkäufliche Schmerzmittel wegen Kopfschmerzen ein, ebenfalls etwa jeder fünfte wegen Rückenschmerzen.

Werden diese Schmerzmittel von den Betroffenen auch bestimmungsgemäß eingesetzt? Nur zum Teil. "Bestimmungsgemäßer Gebrauch bedeutet, dass gelegentlich wiederkehrende Schmerzen, die dem Betroffenen bekannt sind, mit Schmerzmitteln in der empfohlenen Dosis angegangen werden, sobald sie auftreten", betonte Evers. "Bestimmungsgemäß" bedeute außerdem, dass die Mittel an maximal zehn Tagen im Monat eingenommen werden, und dass Kontraindikationen beachtet würden, zum Beispiel kein ASS bei Kindern oder bei bekannter Gastritis.

Werden diese Kriterien zugrunde gelegt, dann setzen europaweit je nach Schmerztyp die Hälfte bis zwei Drittel der Befragten frei verkäufliche Schmerzmittel bestimmungsgemäß ein.

"Immerhin rund jeder Dritte nimmt Analgetika zu spät oder in zu geringer Dosis", so Evers. Etwa zehn Prozent der Befragten nehmen dagegen zu häufig oder zu hoch dosierte Schmerzmittel ein.

Interessant ist der Blick auf Deutschland im Vergleich zu den anderen untersuchten Ländern. Will man es auf einen Nenner bringen, sind die Deutschen überdurchschnittlich skeptisch im Hinblick auf frei verkäufliche Schmerzmittel. "Die Deutschen nehmen weniger Schmerzmittel ein als andere, und sie machen sich mehr Sorgen wegen unerwünschter Wirkungen", so Evers. So gaben zum Beispiel nur 38 Prozent der befragten Deutschen an, lieber ein Schmerzmittel zu nehmen, als Schmerzen auszuhalten. Das ist der niedrigste Wert in ganz Europa. 48 Prozent sagten, sie machten sich Sorgen wegen unerwünschter Wirkungen. Auch das ist Europarekord. In den meisten anderen Ländern liegt diese Quote etwa bei 20 Prozent. Immerhin 36 Prozent geben an, nicht-medikamentöse Methoden zur Schmerzlinderung zu bevorzugen. Auch dieser Anteil ist in anderen Ländern deutlich niedriger.

Was für Erwachsene gilt, gilt in ähnlicher Weise für Kinder. Etwa 1700 Befragte waren Eltern und machten zusätzlich Angaben darüber, wie sie mit Schmerzen bei ihren Kindern umgehen. Drei von vier Eltern halten sich europaweit und auch in Deutschland bei der Schmerzmedikationen von Kindern an die empfohlene Einnahmefrequenz, wenn sie denn Schmerzmittel einsetzen. Etwa 20 Prozent dosieren zu niedrig, kaum jemand zu hoch. Generell hat eine frühe Schmerztherapie bei Kindern aber gerade in Deutschland wenig Freunde: Nur 4 Prozent der Eltern sagen, dass sie eine Schmerztherapie bei ihrem Kind beginnen, sobald der Schmerz auftritt. Im übrigen Europa sind es im Mittel etwa 20 Prozent.

Großer Einfluss von Apothekern und Ärzten bei Selbstmedikation

Interessante Unterschiede zwischen den europäischen Ländern gibt es offenbar auch bei den Faktoren, die die Einnahme von rezeptfreien Schmerzmitteln beeinflussen. Hausärzte und Kinderärzte haben in Deutschland eine überdurchschnittlich starke Stellung. 65 Prozent der befragten Deutschen nannten den Hausarzt bei der Frage, wovon sie die Entscheidung für rezeptfreie Schmerzmittel abhängig machen. Bei den Kindern vertrauen sogar 82 Prozent auf den Kinderarzt. In anderen Ländern liegt diese Quote zum Teil um die Hälfte niedriger, was Evers mit einem weniger guten Zugang zu Ärzten in Verbindung brachte. Ebenfalls sehr gefragt als Ansprechpartner sind in Deutschland die Apotheker: 47 Prozent der Befragten gaben an, den Apotheker bei der Schmerztherapie zu Rate zu ziehen. Einen höheren Wert erreicht nur Spanien.

Evers Schlussfolgerung aus diesen Daten: In Europa generell und in Deutschland im Speziellen gibt es tendenziell eine Unterversorgung mit einfachen Schmerzmitteln, und zwar sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern. Er plädierte dafür, dass Ärzte verstärkt über nicht verschreibungspflichtige Schmerzmittel beraten sollten. "Insbesondere muss auch auf die Unbedenklichkeit einer gelegentlichen Schmerzmitteleinnahme bei Kindern hingewiesen werden."

Jeder Dritte nimmt die Analgetika zu spät ein.

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