Interview

"Zehnerregel" gegen zu viele Schmerzmittel

Die zu häufige Einnahme von Schmerzmitteln bei Kopfschmerzen kann wiederum Kopfschmerzen auslösen - ein Teufelskreis. Dabei ließe er sich verhindern, erklärt Professor Hartmut Göbel von der Schmerzklinik Kiel im Interview.

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Forschung & Praxis: Wie lässt sich in der Praxis unterscheiden, ob ein Kopfschmerzpatient eine chronische Migräne, einen chronischen Spannungskopfschmerz oder aber einen chronischen Kopfschmerz durch Schmerzmittelübergebrauch hat?

Professor Hartmut Göbel: Entscheidend ist, bei der Schmerzanamnese auch dezidiert nachzufragen: Wie laufen die Kopfschmerzen ab? An wie vielen Tagen im Monat treten sie auf? Und ganz wichtig: Was macht der Patient gegen seine Kopfschmerzen?

In der Regel berichten die Patienten über Kopfschmerzen an 10 bis 15 Tagen im Monat, oft sind es aber schon 20 bis 25 Tage.

Manche Patienten nehmen die Kopfschmerzen hin, weil sie nicht jeden Tag Schmerzmittel einnehmen wollen. Der Patient mit Kopfschmerz aufgrund von Medikamentenübergebrauch jedoch hat eine wichtige Schwelle überschritten: Er nimmt an mehr als zehn Tagen im Monat eine Akutmedikation ein - ein Triptan, ein Analgetikum oder beides.

Hier ist davon auszugehen, dass die häufige Einnahme dieser Medikamente die Kopfschmerz-Frequenz erhöht hat. Bevor dieser mögliche Risikofaktor für die Chronifizierung nicht geklärt ist, kann keine Prophylaxe sinnvoll beginnen.

Klärung bringt eine Medikamentenpause. Sie ist der erste Therapieschritt, wenn Patienten an mehr als zehn Tagen im Monat Akutschmerzmittel einnehmen. Wir sprechen hier nicht von "Medikamentenentzug", denn wir machen nur eine Pause. Der Patient soll später wieder Akutmedikamente zur Verfügung haben.

Ziel dieser Schmerzmittelpause ist, dass sich das Schmerz verarbeitende System erholt. Denn die hohe Einnahmefrequenz hat zur Erschöpfung der Schmerzabwehrsysteme geführt.

F & P: Wie lange sollte eine solche Medikamentenpause dauern?

Göbel: Das hängt davon ab, welche Medikamente eingenommen wurden. Bei Triptanen reicht meist eine Pause von fünf bis sieben Tagen aus.

Gegen den in dieser Zeit auftretenden Umstellungskopfschmerz dürfen keine Akutschmerzmittel verabreicht werden - auch keine Schmerzinfusionen, was leider häufig noch praktiziert wird. Denn dann funktioniert die Schmerzmittelpause nicht!

Sinnvoll ist eine Begleittherapie, zum Beispiel ein Antiemetikum gegen Übelkeit und Erbrechen oder ein mittelpotentes Neuroleptikum gegen Unruhe und Schlaflosigkeit. Auch kann ein Prednisolonschema über mehrere Tage die Reboundkopfschmerzen deutlich mildern.

F & P: Und wie lange ist die Pause bei anderen Schmerzmitteln?

Göbel: Bei anderen Medikamenten ist die Behandlung komplexer. Hier ziehen sich die Umstellungskopfschmerzen oft über drei bis vier Wochen hin. Davon betroffen sind häufig Patienten, die zwei oder drei Mittel oder Kombinationsanalgetika mit psychotropen Substanzen wie Koffein oder Codein einnehmen.

Ist der Umstellungskopfschmerz überwunden und bleiben die Patienten danach fünf bis zehn Tage kopfschmerzfrei, ist der chronische Kopfschmerz wieder in einen episodischen remittiert. Dann kann bei erneuten Kopfschmerzen wieder eine Akutmedikation angewendet werden.

Wichtig ist, dass nach der Medikamentenpause mit einer effektiven und nachhaltigen Prophylaxe begonnen wird, damit die Kopfschmerzfrequenz niedrig bleibt und somit die "Zehnerregel" eingehalten wird, Akutschmerzmittel an maximal zehn Tagen im Monat einzunehmen.

Der Patient wird angehalten, seinen Arzt zu konsultieren, sobald die Kopfschmerzen wieder häufiger werden. Dann muss die Prophylaxe überprüft und entsprechend angepasst werden.

F & P: Am meisten erfolgversprechend bei Kopfschmerz durch Schmerzmittelübergebrauch ist die stationäre Behandlung. Wie hoch ist hier langfristig die Erfolgsrate?

Göbel:Unter stationären Bedingungen und mit einer Nachbetreuung vor Ort durch niedergelassene Kopfschmerzspezialisten besteht eine nachhaltige Besserung von etwa 95 Prozent noch nach einem Jahr. Ambulante Behandlungen führen bestenfalls bei 30 Prozent der Patienten zu einer dauerhaften Besserung.

F & P: Wie erklärt sich der Unterschied?

Göbel:In speziellen Schmerzzentren erhalten die Patienten über die Medikamentenpause hinaus eine multimodale Therapie. Wesentlicher Punkt dabei sind Schulungen, in denen über Kopfschmerzen und darüber informiert wird, wie die Patienten durch Änderungen in ihrer Lebensführung Kopfschmerzen vermeiden können.

Tagesrhythmus, regelmäßige Pausen, Ernährung, Sport und Entspannungsverfahren sind hier wichtige Stichpunkte der verhaltensmedizinischen Intervention. In Einzelgesprächen, Vorträgen und durch Gruppentherapien bekommen die Patienten ihr Handwerkszeug für den Alltag.

Daher ist eine stationäre Behandlung wesentlich effektiver als eine ambulante, bei der nur die Medikation geändert wird.

Das Problem ist ja nicht der Kopfschmerz allein. Die Patienten erschöpfen sich im Alltag, ziehen sich zurück, es kommt zu sozialen und beruflichen Komplikationen und Behinderungen. Hinzu kommen Schlafstörungen, Angsterkrankungen und Depressionen.

Diese komplexen, schwergradigen Störungen können stationär hochintensiviert und gezielt durch ein multiprofessionelles Expertenteam effizient behandelt werden.

F & P: Ließe sich durch eine frühzeitige Prophylaxe ein Schmerzmittelübergebrauch von vorneherein verhindern?

Göbel: Mit einer effizienten Prophylaxe, die beizeiten einsetzt, könnte in viel größerem Maße eine Chronifizierung und damit auch die Entwicklung zum Übergebrauchskopfschmerz vermieden werden.

Eine Komponente hierbei ist die medikamentöse Prophylaxe. Bei Migräne sind den Leitlinien zufolge Metoprolol und Propranolol, Flunarizin sowie Topiramat und Valproinsäure die Prophylaktika der ersten Wahl.

Für Patienten mit chronischer Migräne, die auf eine solche medikamentöse Prophylaxe unzureichend ansprechen oder diese nicht vertragen, ist die Therapie mit Botulinumtoxin, das perikranial in definierte Muskelgruppen injiziert wird, eine neue Option.

In den Zulassungsstudien konnte damit bei rund 70 Prozent der Patienten die Zahl der Migränetage innerhalb eines Jahres im Vergleich zu Therapiebeginn signifikant reduziert werden.

Die entscheidende Komponente in der Prophylaxe sind Aufklärung über mögliche Ursachen der Kopfschmerzen sowie verhaltenstherapeutische Maßnahmen. Wichtig ist, ungünstige Konstellationen aufzudecken wie Stressoren im Alltag, in der Familie oder im Beruf und den Patienten eine entsprechende Beratung im Sinne einer möglichen Lösung der Probleme anzubieten.

F & P: Was sollten Hausärzte beachten, wenn Kopfschmerzpatienten sie wegen anderer Schmerzen konsultieren?

Göbel: Das Problem ist, dass Hausärzte Kopfschmerzpatienten oft erst identifizieren müssen. Denn diese kommen in der Regel nicht wegen Kopfschmerzen, sondern wegen anderer schmerzhafter Erkrankungen wie Rheuma, Rücken- oder Arthroseschmerzen in die Praxis.

Allerdings sind Ärzte und Patienten auf sich allein gestellt, wenn es darum geht, wie sie die Zehnerregel handhaben sollen, wenn etwa Migränepatienten wegen Rückenschmerzen eine Dauertherapie benötigen. Hierzu gibt es keine Leitlinie.

Hier rate ich, Kontakt zu einem Netzwerk für eine spezialisierte Behandlung aufzunehmen. Als Ausweichtherapie könnte man ein retardiertes Opioid in niedriger Dosierung einsetzen.

Es ist bei Migräne nicht wirksam und fördert somit den Übergebrauchskopfschmerz nicht. Würde man dagegen Ibuprofen oder andere Nicht-Opioidanalgetika wählen, könnte die Kopfschmerzfrequenz eskalieren.

F & P: Halten Sie es für sinnvoll, Patienten den Zugriff auf frei verkäufliche Schmerzmittel zu erschweren, etwa indem man die Packungsgrößen reduziert?

Göbel: Eine Packungsgrößenbeschränkung wird das Problem nicht lösen. Triptane zum Beispiel sind auf sechs Stück pro Packung beschränkt und sind rezeptpflichtig. Und doch haben wir derzeit den meisten Übergebrauch mit diesen Präparaten.

Für viel wichtiger halte ich, die Bevölkerung über den richtigen Umgang mit Schmerzmitteln zu informieren und die "Zehnerregel" zu kommunizieren: An 10 Tagen im Monat sind Akutmedikamente möglich, 20 Tage sollen einnahmefrei sein.

Das müsste man eigentlich auf jede Packung schreiben. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass die wenigsten Patienten diese Grenze kennen.

Das Interview führte Dr. Ulrike Maronde. Es wurde zuerst veröffentlich in "Forschung und Praxis", Nummer 525.

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