Paul Ehrlich- und Ludwig Darmstaedter-Preis

Vom "Tinnef" zur erfolgreichen Arznei

Mit dem Paul Ehrlich-Preis wurden in diesem Jahr zwei Wissenschaftler geehrt, die lange Zeit vom Projekt des Kollegen nichts wussten. Ihre Forschung gipfelte in sehr wirksamen Therapeutika.

Peter LeinerVon Peter Leiner Veröffentlicht:
Computermodell des Zytokins TNF-alpha. Meist existiert das Eiweißmolekül als Trimer.

Computermodell des Zytokins TNF-alpha. Meist existiert das Eiweißmolekül als Trimer.

© Winter / science photo library / Agentur Focus

NEU-ISENBURG. Die Arbeiten von Anthony Cerami und David Wallach sind ein großartiges Beispiel dafür, wie ausdauernder, von wissenschaftlicher Neugier getriebener, von keinem Rückschlag entmutigter Erkenntnisdrang in ganz unerwarteter Weise zum Wohle kranker Menschen beitragen kann." So kennzeichnete Professor Thomas Boehm, neuer Vorsitzender des Stiftungsrates der Paul Ehrlich-Stiftung während des Festaktes die Leistung der diesjährigen Preisträger.

Dies sei ein besonders gelungenes Beispiel für das, "was wir gemeinhin Translation nennen, also die Nutzung des im Labor gewonnenen Wissens zur Diagnose und Therapie am Krankenbett", so der geschäftsführende Direktor des Max-Planck-Instituts für Immunbiologie und Epigenetik in Freiburg.

Beide Preisträger haben über viele Jahre – Cerami in den USA, Wallach in Israel – an ein und demselben Molekül geforscht, anfangs ohne zu ahnen, dass ihre Forschungsobjekte identisch waren.

Heute ist das Signalmolekül als Tumor-Nekrose-Faktor (TNF) bekannt, ein Schlüsselmolekül entzündlicher Prozesse, nachdem es zunächst – je nach Forschungsansatz – von Cerami als Cachectin und von Wallach als Zytotoxin bezeichnet worden war. Bereits 1986 bezeichnete Cerami Cachectin und TNF als die beiden Seiten einer "biologischen Medaille".

Kennengelernt in Heidelberg

Mehrere Medikamente stehen inzwischen zur Verfügung, die in die von TNF ausgehende Signalkaskade eingreifen und die Beschwerden etwa bei rheumatoider Arthritis, Psoriasis oder Spondyloarthritis lindern.

Persönlich kennengelernt haben sich die beiden Forscher erst bei der 1st International TNF Conference 1987 in Heidelberg, zwei Jahre nach Isolierung und Klonierung des Zytokins – und fast zwei Jahrzehnte nach Beginn dieser Forschung.

Cerami, der nach eigenen Angaben als Zehnjähriger Paul de Kruifs "Mikrobenjäger" – mit einem Kapitel auch über Paul Ehrlich und seine "Zauberkugel" – gelesen hat und so zur Forschung kam, näherte sich von der Parasitologie her seinem Forschungsobjekt. De Kruif war Bakteriologe am selben Institut, an dem Cerami später Jahrzehnte lang TNF-Forschung betrieb: am Rockefeller-Institut in New York.

In den 1970er-Jahren wunderte Cerami sich unter anderem darüber, dass mit Trypanosomen infizierte Rinder extrem abmagerten, kachektisch wurden wie Krebspatienten, obwohl sich nur wenige Parasiten aufspüren ließen.

Als er eines Tages wieder einmal über die Ursache nachgedacht habe, sei ihm die Idee gekommen, dass die Tiere irgendetwas synthetisierten, was beim Versuch, die Parasiten wieder loszuwerden, diese extreme Abmagerung auslöste, so Cerami.

Patent bereits 1981 angemeldet

Mithilfe von Mausversuchen gelang ihm schließlich mit seiner Arbeitsgruppe die Isolierung von Cachectin, das sich dann als identisch mit TNF herausstellte. Bereits 1981 hatte er ein Patent auf das Protein angemeldet, das schließlich Mitte 2002 erteilt wurde.

Als sich herausstellte, dass TNF und Cachectin identisch waren, gab es eine Gruppe von Wissenschaftlern, die dies sehr überraschte. Denn ssiehatten gehofft, dass sie TNF, weil es in der Lage war, Nekrosen in Tumoren auszulösen, zur Therapie von Krebspatienten nutzen könnten.

Cerami hielt das Zytokin jedoch für zu toxisch, warnte davor und schlug dagegen vor, TNF mit monoklonalen Antikörpern zu hemmen. Das Prinzip wird heute zwar nicht bei Krebspatienten genutzt, weil es hier viel zu toxisch ist, aber bei Patienten mit Autoimmunerkrankungen wie rheumatoide Arthritis und Psoriasis.

Cerami entwickelte HbA1c-Test

Cerami hat in seiner wissenschaftlichen Karriere, die unter anderem mit Forschungen zum Hämoglobin S bei Sichelzellanämie einherging und zum Beginn der Entwicklung des HbA1c-Tests für Diabetiker führte, mehr als 150 US-Patente erteilt bekommen. Die erste Patientin, bei der der HbA1c-Test überprüft wurde, war seine Mutter, wie der Biochemiker der "Ärzte Zeitung" sagte.

Cerami ist Gründer der US-Firma Araim Pharmaceuticals, die sich auf die Entwicklung von Arzneimitteln gegen Entzündungen und Gewebsläsionen bei chronischen Erkrankungen fokussiert. Unter anderem hat der Wissenschaftler entdeckt, dass sich mit dem Peptid ARA290, bestehend aus elf Aminosäuren, die Teil des Erythropoietins sind, Entzündungsreaktionen aus- und Reparaturvorgänge einschalten lassen. Derzeit wird das Präparat in drei klinischen Studien geprüft – auch als Erythropoietin-Analogon bei Typ-2-Diabetikern.

Warum sterben Zellen?

Wallach hatte einen ganz anderen Forschungsansatz zur Aufklärung von TNF und dessen Funktionen. Was ihn damals schon brennend interessierte, war die Frage, warum Zellen sterben, wie er im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung" sagte.

Inzwischen sei das ein sehr populäres Forschungsgebiet geworden. Zunächst erforschte er in diesem Zusammenhang allerdings die Funktion eines anderen Zytokins, nämlich von Interferon, das die Freisetzung von zytotoxischen Molekülen aus Leukozyten triggert.

Wallach, der meist am Weizmann Institute of Science in Rehovot forschte, suchte zunächst nicht intrazellulär nach den Mechanismen, die den Zelltod einleiten, sondern nach einem extrazellulären Stimulus, in Anlehnung an das Hebelgesetz von Archimedes und seinem Ausspruch: "Gebt mir einen festen Punkt und ich bewege die Erde", wie der Experte für biologische Chemie erläuterte.

Über die letzten drei Dekaden hinweg war Wallach damit beschäftigt, die Rolle von TNF im pathologischen Geschehen aufzuklären. Doch anfangs hätten ihn die Forscher am Institut wegen seines Forschungsobjekts aufgezogen, weil damals keiner an TNF geglaubt habe, so Wallach.

"Sie fragten mich: Glauben Sie wirklich, dass dieses Molekül existiert?" Deshalb hätten sie gesagt, das sei ja nur "Tinnef", ein jiddisches Wort im Sinne von Kleinkram oder Dreck. Die Skeptiker sollten sich jedoch gewaltig täuschen.

Wallach entdeckte zum einen die beiden TNF-Rezeptoren, zum anderen, dass TNF nicht nur eine einzige Funktion – die zytotoxische über die Einleitung des programmierten Zelltodes – besitzt. Das Zytokin sorgt auch dafür, dass Zellen überleben. Letztlich kommt es auf das Gleichgewicht im Zusammenhang mit Abschnitten der TNF-Rezeptoren an.

Abertausende Liter Urin

"Dasselbe Molekül, das Signale ins Zellinnere sendet und Entzündungsreaktionen in Gang setzt, hat auch Abschnitte, die die Entzündung stoppen", so Professor Charles A. Dinarello, Mitglied des Stiftungsrates in der Laudatio. Er beschrieb, wie aufwändig die Suche nach der Funktion von TNF war und Wallach über die Isolierung und Charakterisierung des "TNF Binding Protein", also eines TNF-Inhibitors, führte.

Diesen Hemmstoff isolierte Wallach aus Abertausenden von Litern Urins italienischer postmenopausaler Nonnen – zumindest aus dem Konzentrat, das nach der Isolierung der Hormone LH und FSH zur Herstellung des Präparates Menotropin für die Infertilitätsbehandlung noch tiefgefroren verfügbar war, wie Dinarello erzählte: "Die Isolierung des TNF Binding Protein war ein Meilenstein."

Im Urin sei schließlich von Forschern am Weizmann-Institut eine zweite TNF-Rezeptorkomponente entdeckt worden, die sich vom TNF-Bindeprotein unterscheidet und eine gegensätzliche Funktion hat. Es stellte sich heraus, dass die beiden Substanzen Teile des TNF-Rezeptors sind.

Durch diese Entdeckung habe Wallach der Wissenschaftsgemeinde einen Schlüssel zur Aufklärung der TNF-Funktion geliefert, so Dinarello, sowie zum Verständnis darüber, wie die Außenwelt das Zellinnere beeinflusst. Der hemmende TNF-Rezeptorabschnitt wird seit vielen Jahren gentechnisch hergestellt und ist Teil des Fusionsproteins Etanercept, das Anfang 2000 zur Therapie etwa von Patienten mit rheumatoider Arthritis zugelassen wurde.

TNF-Superfamilie im Blick

Heute weiß man, dass das Zytokin Teil einer TNF-Superfamilie ist, in der es Mitglieder gibt, die schon seit 300 Millionen Jahren existieren, zum Beispiel in Korallen als Auslöser des programmierten Zelltods. Andere Zytokine der Superfamilie sind wichtig für die Entwicklung von Haaren, Fingernägeln und Schweißdrüsen oder bei Fischen für die Schuppenbildung.

Der Faktor RANK ist an der Regulation des Knochenumbaus beteiligt. Es gebe starke Hinweise, dass er helfen könnte, den Knochenumbau bei Krebspatienten aufzuhalten, so Wallach. Die meisten Mitglieder regelten jedoch die Immunfunktionen.

Für Wallach sind monoklonale Antikörper gegen Zytokine wie TNF oder seine Rezeptoren keine "Zauberkugeln" im Sinne Paul Ehrlichs. "Denn versucht man, Zytokine zu blockieren, muss man immer damit rechnen, dass auch deren positiven Effekte gehemmt werden." Deshalb strebe man danach, noch spezifischere Antikörper als bisher zu entwickeln.

Lesen Sie dazu auch: Paul Ehrlich-Nachwuchspreis: Erforschung weißer und brauner Fettzellen

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