Ist Rheuma eine monogenetische Erkrankung?

AMSTERDAM (gvg). Aller Forschung der vergangenen Jahre zum Trotz: Warum es zu rheumatischen Erkrankungen kommen kann, ist bis heute nicht bekannt. Auf dem Europäischen Rheumatologen-Kongreß in Amsterdam wurde diskutiert, ob möglicherweise einzelne Genmutationen im Zusammenspiel mit noch nicht identifizierten Umweltfaktoren die Ursache rheumatischer Erkrankungen sein könnten.

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Rheuma als monogenetische Erkrankung? Für Professor Jean-Laurent Casanova, Genetiker und Pädiater am nationalen französischen Forschungszentrum INSERM in Paris, ist das zumindest ein Erklärungsansatz. Er hat in den vergangenen Jahren die genetischen Hintergründe einer ganz anderen Erkrankung aufgeklärt, die er in Amsterdam als ein Modell für rheumatische Erkrankungen zur Diskussion stellte, nämlich die HerpesEnzephalitis.

"Am Anfang unserer Überlegungen stand die Frage, was eigentlich der Grund dafür ist, daß ein ubiquitär vorhandenes Virus wie das Herpes- simplex-Virus nur bei einem von 50 000 Menschen eine potentiell lebensbedrohliche Enzephalitis auslöst", sagte Casanova. Am plausibelsten erschien den Wissenschaftlern die These, daß die Herpes-Infektion nur dann so fatal verläuft, wenn der Körper dafür prädestiniert ist. Die Wissenschaftler machten sich also auf die Suche nach einem passenden Gen.

Erste Hinweise erhielten sie in Untersuchungen bei zwei Patienten, die einen primären Immundefekt hatten und zusätzlich eine Herpes-Enzephalitis entwickelten. Hier lag auch eine Störung in der Interferon-Produktion vor, so daß die Forscher sich von nun an auf diesen immunologischen Pfad konzentrierten.

Bei zwei sonst gesunden Kindern, die unabhängig voneinander eine Herpes-Enzephalitis entwickelten, konnten sie dann eine für die Herpes-Enzephalitis offenbar typische Konstellation identifizieren, bei der trotz normaler Leukozytenzahl die Produktion der drei Interferon-Typen IFN-alfa, IFN-beta und IFN-lambda gestört ist, nicht aber die von IFN-gamma.

    Gendefekt führt dazu, daß das Immunsystem schlapp macht.
   

Durch weitere Untersuchungen und Vergleiche mit Tiermodellen identifizierten Casanova und seine Kollegen eine Genvariante auf Chromosom 3 mit der Bezeichnung UNC93B1. Diese Genvariante wird autosomal rezessiv vererbt und geht mit dem für Patienten mit Herpes-Enzephalitis typischen, immunologischen Muster einher. "Über dieses Gen war bisher praktisch nichts bekannt", so Casanova. Für welches Eiweiß das Gen den Bauplan enthält, ist noch unklar.

Massive Infektion durch beeinträchtigtes Immunsystem

Wer das Gen hat, dessen intrazelluläre Rezeptoren des Immunsystems, die TLR (Toll-Like-Receptors), funktionieren nicht richtig. Folge ist, daß es unter anderem in Fibroblasten zu einer überdurchschnittlich starken Vermehrung der Herpes-Viren kommt. Letztlich sterben die befallenen Zellen bei homozygoten Trägern des Gens als Reaktion auf eine Herpesinfektion. Dadurch wird die Interferon-Produktion beeinträchtigt und der Organismus anfällig für massive Infektionsverläufe.

"Wir haben nach unseren Untersuchungen keinen Zweifel mehr, daß Herpes-Enzephalitis eine monogenetische Erkrankung ist", unterstrich Casanova. Daß bislang niemand einen entsprechenden Erbgang beobachtet hat, könnte daran liegen, daß wegen der für eine genetische Erkrankung untypischen Akutsymptomatik einer Herpes-Enzephalitis einfach noch niemand genau genug danach gesucht hat.

Eine andere Erklärung wäre, daß die Erkrankung meist bei jungen Menschen auftritt. Vor der Einführung moderner antiviraler Medikamente in den 80er Jahren des vorigen Jahrhunderts starben die Betroffenen in aller Regel an den Folgen der Erkrankung, häufig bevor sie Kinder in die Welt setzen konnten.

"Der Trigger könnte eine banale Infektion sein"

Der Pädiater Casanova kann sich gut vorstellen, daß ähnliche Zusammenhänge auch in der Rheumatologie zu finden sind. In Amsterdam ermunterte er seine internistischen Kollegen, danach intensiver als bisher zu suchen: "Ich bin mir sicher, daß viele rheumatische Erkrankungen nicht polygenetisch sind, sondern strikt nach den Mendelschen Regeln vererbt werden", so seine These. Der Trigger, der zum Ausbruch der Erkrankung bei den Mutationsträgern führt, könnte irgendeine banale Infektion sein. Oder auch etwas ganz anderes.



STICHWORT

Toll

"Toll" ist der Name eines Rezeptors der Fruchtfliege Drosophila melanogaster, den ein Forscherteam um die Tübinger Medizin-Nobelpreisträgerin Professor Christiane Nüsslein-Vollhard geklont hat. Die Wissenschaftler fanden den Rezeptor so toll, daß sie ihn auch so bezeichneten. Später wurden bei Säugetieren - auch bei Menschen - ähnliche Rezeptoren entdeckt. Als "Toll-ähnliche Rezeptoren" (TLR) sind sie für die unspezifische Immunantwort von großer Bedeutung. Inzwischen haben auch Pharmakologen diese TLR für ihre Forschung entdeckt und entwickeln Agonisten für die Therapie. (ars)

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