Zwischen Effektivität und Chancengleichheit

In den USA ist eine Grundsatzdebatte über die Regeln für die Nierenallokation entbrannt. Die Bürger sollen Stellung nehmen.

Von Nicola Siegmund-Schultze Veröffentlicht:
Auf eine neue Niere warten in Deutschland mehr als 8 000 Menschen.

Auf eine neue Niere warten in Deutschland mehr als 8 000 Menschen.

© horizont21 / fotolia.de

NEU-ISENBURG. In den USA steht eines der wesentlichen Kriterien für die Zuteilung von postmortal gespendeten Nieren auf dem Prüfstand: die Wartezeit. Stattdessen gibt es den Vorschlag des Organ Procurement and Transplantation Network (OPTN), die mit einem Transplantat zu erwartenden Lebensjahre als Ausdruck der Erfolgsaussicht im Verhältnis zur Chancengleichheit stärker zu gewichten als bisher.

Das OPTN - in den USA für die Erarbeitung der Regeln für die Organallokation zuständig - hat diesen Vorschlag ins Netz gestellt und die Bürger zu einer Rückmeldung aufgefordert. Die Meinungen von Ärzten und Ethikern sind geteilt: Die einen halten den Vorschlag für vernünftig und gerecht, andere sehen darin eine Altersdiskriminierung.

Auch die in Deutschland geltenden Richtlinien zur Organtransplantation nennen die Wartezeit unter dem Aspekt der Chancengleichheit als Kriterium für die Vermittlung von Organen. Wie stark der Faktor Wartezeit im Verhältnis zu anderen Faktoren ins Gewicht fallen sollte, wird immer wieder diskutiert, auch in Deutschland.

Das OPTN begründet seinen neuen Vorschlag damit, dass teilweise ältere Menschen Organe von deutlich jüngeren Spendern erhielten. Würden diese Nieren jüngeren Empfängern implantiert, seien erheblich längere Transplantat- und Patientenüberlebenszeiten zu erwarten als bei älteren Empfängern.

Nach dem Vorschlag des OPTN soll für 80 Prozent der postmortal gespendeten Nieren die Altersdifferenz zwischen Empfänger und Spender nicht mehr als 30 Jahre betragen dürfen. Die restlichen 20 Prozent sollen aus den Nieren mit den längsten zu erwartenden Funktionszeiten bestehen.

 Sie sollen nur an jene 20 Prozent der Empfänger vergeben werden dürfen, die die höchste Überlebenszeit erwarten lassen. Auf diese Weise würden jüngere, gesündere Patienten im Verhältnis zu älteren bevorzugt -was als "survival matching" bezeichnet wird. Letztere sammeln mit der Wartezeit Punkte. Die Zeit seit Anmeldung auf der Warteliste wäre dann, wenn überhaupt, von geringerer Bedeutung.

Risiken für Organversagen sollen abgeschätzt werden

Für die Spendernieren soll ein Risikoprofil erarbeitet und daraus ein Risiko-Index errechnet werden, für die Empfänger sollen Risikofaktoren für ein Organversagen und vorzeitigen Tod quantifiziert werden.

Ob sich ein "survival matching" überhaupt realisieren lässt, hält Professor Ernst-H. Scheuermann von der Universitätsklinik Frankfurt am Main jedoch für ungewiss. "Valide Risikoprofile zu erstellen, dürfte sehr schwierig sein", so der Nephrologe im Gespräch mit der "Ärzte Zeitung".

Mit dem Old-for-Old-Programm, bei dem über 65-Jährige bevorzugt eine Niere von über 65-jährigen Spendern erhalten ohne Berücksichtigung der HLA-Merkmale, wird bereits versucht, die absehbar kürzere Lebenserwartung der Empfänger auch unter dem Aspekt der Erfolgsaussicht zu berücksichtigen: Ein großer Teil derer, die am Programm teilnehmen, erhält innerhalb eines Jahres ein Organ.

Die USA haben ein solches Programm nicht. Kritisiert wird daran, manche Empfänger seien zu krank, um einen medizinischen Vorteil vom Transplantat zu haben; dieses Organ hätte bei einem anderen, weniger kranken Patienten möglicherweise aber funktioniert.

"Wir sehen in der Nachsorge tatsächlich Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz, bei denen in einer vorgeschädigten Niere die Durchblutung nicht ausreicht", bestätigt Scheuermann. Ein Teil dieser Patienten wäre möglicherweise mit dem weniger vorgeschädigten Organ eines jüngeren Spenders zurecht gekommen.

 Es gebe aber auch bei der Kombination "älterer Empfänger und marginales Organ" positivere Verläufe als erwartet. "Eine zuverlässige individuelle Prognose ist extrem schwierig", sagt Scheuermann.

Zahl älterer Patienten auf der Warteliste steigt

Im "New England Journal of Medicine" (NEJM 2011; 364: 1287-1289) äußern sich Ärzte und Bioethiker dazu.

Die demografische Veränderung trage wesentlich zur steigenden Zahl von Patienten auf der Warteliste mit höherem Durchschnittsalter bei und sei der Grund dafür, dass seit 1995 die Patienten nach einer Nierentransplantation 18 Monate kürzer lebten, so Dr. Alan B. Leichtman von der University of Michigan.

Diese Entwicklung gelte es durch die neuen Regeln zu korrigieren. Eine Altersdiskriminierung sehen dagegen Dr. Lainie Friedman Ross und ihr Team von der Universität von Chicago (NEJM 2011; 364: 1285-1287). "Für einen 60-Jährigen, der auch noch 20 Jahre leben kann, würde es extrem schwierig, eine Niere zu erhalten", so Ross.

Diese Patienten wären dann möglicherweise stärker als derzeit auf eine Lebendorganspende angewiesen. Umgekehrt habe seit der Einführung der bevorzugten Vergabe von Nieren jüngerer Spender (unter 35 Jahre) an Kinder und Jugendliche im Jahr 2005 die Bereitschaft zur Lebendspende an Patienten dieser Altersgruppe abgenommen.

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