Bürokratie im Orkus

Jeder vierte GKV-Euro versinkt im Bürokratie-Orkus. Die Studie einer Unternehmensberatung schockiert die Republik. Gesundheitsökonomen melden jetzt erste Zweifel an der Studie an. Der Hauptautor fühlt sich missverstanden.

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Heimelig: Sieht es so in deutschen Amtsstuben des Gesundheitswesens aus?

Heimelig: Sieht es so in deutschen Amtsstuben des Gesundheitswesens aus?

© dpa

NEU-ISENBURG (nös). Da wiehert der Amtsschimmel: Ein Viertel des deutschen Gesundheitswesens ist nur Bürokratie. Wer das nicht längst wusste, bekommt jetzt ordentlich Futter.

Denn eine Unternehmensberatung hat nachgerechnet und eine nach eigenem Bekunden "nie dagewesene Transparenz" geschaffen. Ihr Ergebnis: Jeder vierte GKV-Euro geht für die Bürokratie in der gesetzlichen Krankenversicherung drauf.

Der Befund muss so ziemlich jeden bestätigen, der mit dem deutschen Gesundheitswesen zu tun hat. Denn bislang sind kaum kritische Stimmen zu hören.

Bislang, denn Gesundheitsökonomen haben sich das Papier nun vorgenommen - und etliche Fragezeichen gefunden. Mit dem Ergebnis der Studie stimmen die Experten zwar überein, schlicht an der Methode haben sie ihre Zweifel.

Die Rede ist sogar von "undifferenziertem Populismus", "fehlender Repräsentativität" und "Unfug bei etlichen Zahlen". Der Studienautor fühlt sich und seine Untersuchung missverstanden.

Viel Lob von den Standesorganisationen

Doch der Reihe nach: Die Nachricht über die Studie der Unternehmensberatung A.T. Kearney ist nicht mehr so neu. Bereits am Wochenende machte ein Vorabbericht des Nachrichtenmagazins "Der Spiegel" die Runde.

Eifrig machte sich die Journalie darüber her und druckte die Meldung nach. Tenor: "So verschwenden die Krankenkassen Geld" (Bild). Auch die "Ärzte Zeitung" griff die Meldung auf.

Das Problem: Kaum ein Journalist hatte die Studie zu diesem Zeitpunkt gelesen, sie war zu diesem Zeitpunkt noch nicht veröffentlicht.

Für die Standesorganisationen und ärztlichen Verbände kein Grund zur Enthaltsamkeit: Juchu, brüllte es aus allen Himmelrichtungen. Endlich liefere jemand Zahlen und beweise die hinlänglich bekannte Bürokratie.

Der Präsident der Bundesärztekammer ließ verlauten: "Wir begrüßen es außerordentlich, dass einmal mehr in einer Studie auf die absoluten Missstände der Bürokratisierung des Gesundheitswesens zu Lasten der Patientinnen und Patienten hingewiesen wird."

Die Kassenärztliche Bundesvereinigung folgte stehenden Fußes: "Die Ergebnisse der Studie zeigen einmal mehr, wie hoch die Belastung der Arztpraxen insbesondere durch von Krankenkassen verursachte Bürokratie ist", sagte KBV-Sprecher Dr. Roland Stahl.

Dem Fass der Europhoria setzte Professor Karl Lauterbach die Krone auf. Der gesundheitspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion sprach dem "Kölner Stadtanzeiger" ins Notizheft: "Wir haben uns zu lange von der Selbstverwaltung auf der Nase rumtanzen lassen." Lauterbachs Fazit: Die Selbstverwaltung habe sich nicht bewährt.

Spätestens an dieser Stelle zieht KBV-Sprecher Stahl die Notbremse: "Das Prinzip der Selbstverwaltung funktioniert", entgegnete er.

Industrie und Gesundheit nicht vergleichbar

Das Nachsehen hatten nur die Krankenkassen. "Der Pauschalvorwurf von zu viel Bürokratie geht an der Realität vorbei", ließ Verbandssprecher Florian Lanz mitteilen. "Die Massenproduktion von Industriegütern kann man mit der individuellen Behandlung kranker Menschen nicht vergleichen."

Damit spielte Lanz auf den Vergleich zwischen GKV und Industrie an, den die A.T.-Kearney-Autoren gezogen haben: Von 176 Milliarden Euro in der GKV seien im Jahr 2010 insgesamt 40,4 Milliarden Euro für Verwaltungskosten ausgegeben worden.

Das ist immerhin eine Quote von 23 Prozent, die sich zudem nicht mit den offiziellen Verwaltungsausgaben von 9,48 Milliarden Euro deckt. In der Industrie liege die Quote nur bei 6,1 Prozent, so die Autoren der Unternehmensberatung.

Doch schon an diesem Vergleich entzündet sich Kritik. Der Vorwurf: Gesundheit sei kein Industriegut, die Systeme völlig verschieden und nicht vergleichbar.

"Dieser Vergleich ist Effekthascherei, um einen vermeintlich großen Unterschied auszuweisen", sagt etwa Professor Klaus Jacobs. Der Gesundheitsökonom ist Chef des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO).

Eines stellt er aber von vornherein klar: "Ich bin weit entfernt davon, zu sagen, dass all das nötig wäre, was wir bei uns an Bürokratie haben."

Studienautor Dr. Oliver Scheel hebt die Hand. Er will die Kritik an dem Vergleich so nicht stehen lassen. "Unsere Aussage ist nicht, dass die Verwaltung im Gesundheitswesen so funktionieren soll oder kann wie in der Industrie", sagt der Vice President von A.T. Kearney.

"Die Sechs-Prozent-Quote für das Gesundheitssystem ist genau so wenig realistisch, wie die 23 Prozent beim Ist-Zustand wünschenswert sind."

Vor allem durch die GKV verursachte Kosten

Doch der Zahlen-Reigen fängt erst an. Drei Viertel der Verwaltungskosten entstünden nicht bei den Kassen, sondern bei den Leistungserbringern (30,9 Milliarden Euro), hat Scheel mit seinen Kollegen errechnet.

Die Heilberufler treffe daran nur geringe Schuld: Denn der ganz überwiegende Teil (27,5 Milliarden Euro) werde durch das GKV-System verursacht - immerhin satte 68 Prozent an den Gesamtverwaltungskosten.

Wieder Jacobs: "Die Studie liest sich unterschwellig so, als wenn Bürokratieprobleme ein Privileg des öffentlichen Gesundheitssystems wären." Man müsse doch eher mal schauen, wie es in der PKV sei. "Gibt es da etwa weniger Bürokratie?", fragt Jacobs.

Tatsächlich wurde nach dem Bekanntwerden der Studie das Kreuzfeuer vor allem auf die Krankenkassen eröffnet.

Die Zielsetzung der "unabhängigen und eigenfinanzierten Studie" spricht klare Worte: Es sollen "speziell die durch die gesetzlichen Krankenkassen verursachten Ineffizienzen herausgearbeitet" werden. Im Fokus stehe die durch die Kassen "verursachte Komplexität".

Scheel sieht sich an diesem Punkt missverstanden: "Diese Studie richtet sich nicht gegen die GKV", sagt er. "Vielmehr war unsere Anliegen, alle Komplexitätstreiber inklusive aller Akteure des Systems zu beleuchten." Zwar spielten die Kassen eine zentrale Rolle, doch in der Studie seien sie nur ein Teilelement.

Bürokratie durch Fragen ermittelt

Was wollte A.T. Kearney mit der Studie überhaupt erreichen? Scheel sagt: "Transparenz schaffen". Die große Frage: "Wie viel bleibt von einem Beitrags-Euro für Gesundheitsleistungen am Patienten übrig?"

Die Methode ist schnell erklärt: Zunächst haben die Autoren die wesentlichen Statistiken zum Gesundheitssystem durchgewälzt.

Anschließend haben sie eine Online-Befragung für Ärzte, Apotheker, Physiotherapeuten und Sanitätshäuser konzipiert, an der am Ende rund 6000 dieser Leistungserbringer teilgenommen haben. Größter Partner für die Befragung von Ärzten war das Online-Portal hippokranet.de.

Über diverse Fragen haben die Studienautoren um Scheel ermittelt, wie hoch der Anteil von Verwaltungstätigkeiten an der der Arbeitszeit ist und wieviel davon durch das GKV-System verursacht wird.

Anschließend haben sie ein paar Dutzend dieser Teilnehmer mit der Stoppuhr über die Schulter geschaut, um die Ergebnisse der Befragung auf Plausibilität zu prüfen.

Gesundheitsökonomen sehen bereits hier etliche Probleme. Der Gesundheitsökonom Professor Jürgen Wasem von der Uni Duisburg-Essen hält die Methodik der Studie für "ziemlich problematisch".

Dies beginne bereits damit, "dass die Studie anders als behauptet keinerlei Anspruch auf Repräsentativität haben dürfte", sagt Wasem.

Er sieht als erstes Problem, dass etliche Nutzer von hippokranet.de die Grundeinstellung haben könnten, "dass die gesetzliche Krankenversicherung ein Bürokratiemonster sei". Entsprechend würden sie dann auch antworten.

Stichprobe unbekannt

Das zweite Problem: Bislang ist die Zusammensetzung der Stichprobe nicht bekannt. Für Außenstehende, wie die Ökonomen Wasem und Jacobs, ist damit kaum nachvollziehbar, ob die Anteile der Befragten mit denen im Gesundheitswesen übereinstimmen.

Wasem: "Es wird schon seinen Grund haben, dass die Macher der Studie den Leser nicht im Einzelnen informieren, wie sich ihre angeblich 6000 Teilnehmer zusammensetzen."

Auch WIdO-Chef Jacobs hat seine Zweifel, ob die Studie repräsentativ ist. Die Selbstrekrutierung der Teilnehmer führe "zu völlig verzerrten Ergebnissen", sagt er.

"Da melden sich doch vor allem diejenigen zu Wort, die ihren Frust loswerden wollen." Selbstrekrutierungen seien für solche Studien grundsätzlich problematisch.

Jacobs geht sogar davon aus, dass eine Umfrage der falsche Weg für die Erhebung von Bürokratiedefiziten ist. "Gerade dazu können doch die Umfrageteilnehmer nichts von neutraler Warte aus sagen", sagt er.

Ein Arzt oder Apotheker sei schließlich kein Experte für Versorgungssysteme. "Da mache ich den Bock zum Gärtner", sagt Jacobs.

Zur Grundlage einer empirischen Studie, "die auch noch den Anspruch einer übergeordneten, neutralen Analyse hat", könne man so eine Umfrage einfach nicht machen.

A.T.-Kearney-Mann Scheel sieht bei dieser Frage einen Nebenkriegsschauplatz eröffnet. Denn: "Niemand kann in Abrede stellen, dass die Verwaltung in unserem Gesundheitssystem eine Schwachstelle darstellt."

WIdO-Chef Jacobs gibt ihm an dieser Stelle Recht: "Natürlich haben wir viele Wirtschaftlichkeitsprobleme in der Versorgung." Beispiele seien die zahlreichen Schnittstellenprobleme.

Diskussion mit dem Ziel Sackgasse?

Scheel befürchtet aber, dass die Diskussion über die Repräsentativität in eine Sackgasse führt. Man bringe das Gesundheitssystem kaum weiter, wenn man "lange Diskussionen über die Wissenschaftlichkeit der Marktforschungsstudie führt".

Scheel: "Wir stehen voll hinter den Ergebnissen und vertreten diese gerne." Die Grunddaten seiner Studie will er der Fachöffentlichkeit demnächst zur Verfügung stellen.

Doch gerade an diesen Grunddaten gibt es weitere Kritik. Für ihre Studie haben die Autoren die Leistungsausgaben aus dem Jahr 2010 zu Grunde gelegt.

Für die ärztliche Behandlung geben sie 43,6 Milliarden Euro an, für die Krankenhausbehandlung 61,9 und für Arzneimittel 32,6 Milliarden Euro. Die Crux: Die Zahlen stimmen nicht mit der amtlichen KJ1-Statistik über die offiziellen Rechnungsergebnisse überein (27,1, 58,1 und 30,2 Milliarden Euro).

Für Ökonom Wasem ein großer Faux pas: "Nicht für die Qualität der Studie spricht auch, dass nicht einmal die nachprüfbaren Grunddaten stimmen." So seien offenbar den Ausgaben für die Ärzte auch die der Zahnärzte zugerechnet worden. "Auch die Angaben für den Krankenhausbereich stimmen nicht."

Studienautor Scheel kann die Unterschiede allerdings erklären. Bei der Recherche nach den Basisdaten seien er und seine Kollegen auf teils sehr unterschiedliche Aufschlüsselungen gestoßen. Deswegen hätten sie sich dazu entschieden, die Zahlen auf Basis der offiziellen Grunddaten selbst zu errechnen.

Und so sind tatsächlich die Ausgaben für Zahnärzte (ohne Zahnersatz) oder etwa die für Früherkennungsmaßnahmen und Dialyse in den Posten der ärztlichen Behandlung mit eingeflossen.

Das Problem ist damit aber nicht aus der Welt. Denn andere Wissenschaftler arbeiten bei ihren Untersuchungen in der Regel auf der Grundlage der offiziellen Statistiken.

Wenn sie Ergebnisse andere Untersuchungen in ihre Forschungen übernehmen wollen, brauchen sie dazu eine vergleichbare Datenbasis. Mit der A.T.-Kearney-Studie hätten sie somit zunächst ganz grundsätzliche Probleme.

Zahl der Akteure als Problem

Dennoch: Die Untersuchung hat Zahlen zutage gefördert, die erschreckend sind. Nur 77 Cent von jedem Beitrags-Euro kämen beim Versicherten an, sagen die Autoren von A.T. Kearney.

Ein wichtiger "Komplexitätstreiber" sei die Zahl der Akteure. Gemeint sind die Organisationen, Verbände und Leistungserbringer.

WIdO-Chef Jacobs findet die Reduktion auf den Anteil der wertschöpfenden Beiträge allerdings zu kurz gegriffen. "Die Ergebnisse kommen unheimlich populär daher, ganz nach dem Motto: 'Verwaltung ist grundsätzlich etwas Schlechtes und bedeutet per se Geldverschwendung.‘ Aber das ist zu platt."

Seine Frage: "Geht es denn wirklich nur darum, wie viele Euros beim Patienten ankommen?" Es würden doch auch viele Leistungen erbracht, "die dem Patienten gar nicht helfen", gibt er zu bedenken. Ergo: "Um das zu vermeiden, brauchen wir die Dokumentation, also Bürokratie."

Auch die geforderte Transparenz schaffe erneut Bürokratie, sagt Jacobs und setzt nach: "Das ist alles offenkundig sehr populistisch auf einer undifferenzierten und pauschalen Basis."

Auch Ökonom Wasem behält seine Bauchschmerzen. Besonders problematisch findet er die Methodik der Zurechnung der Verwaltungskosten auf die GKV.

Beispielhaft geht er auf die Qualitätssicherung der Leistungen ein: "Man kan sicher streiten, wie genau Qualitätssicherung ausgestaltet sein sollte", sagt er.

Alle an einen Tisch holen

Aber: "Qualitätssicherung als in weiten Teilen vermeidbaren Overhead anzusehen, der entfallen könnte, wenn es die GKV nicht gäbe, ist schlicht Unfug."

Scheel ist unbeirrt und sieht in seiner Studie vor allem Diskussionsansätze. "Wir wollten vor allem qualitative und quantitative Fakten und Zusammenhänge im Netzwerk des öffentlichen Gesundheitswesens darstellen", sagt er ". Es müssen jetzt alle Akteure an einen Tisch".

Alle müssten offen sein, sich selbst und ihr Handeln zu überprüfen. Der Unternehmensberater, der von ursprünglicher Profession promovierter Biochemiker ist, geht sogar noch weiter und fordert eine Reduzierung der Akteure im Gesundheitswesen.

Die entscheidenden Fragen dazu seien, ob der Player "stark ausgeprägte Ineffizienzen" verursache oder "hauptsächlich auf Verhinderung einer Systemoptimierung ausgelegt" sei.

Konkrete Beispiele will Scheel noch nicht nennen, das sei Sache weiterer Forschungen und der kommenden Diskussionen. "Es sind alle gefordert."

Wasem: "Da schimmert eine recht naive Vorstellung, wie das Gesundheitswesen organisiert werden sollte, durch." Scheel bleibt optimistisch: "Wir haben das Gespräch mit dem Ministerium gesucht und sind weiterhin dafür offen."

Er und seine Kollegen wollten sich gerne an der Diskussion beteiligen und "Brücken bauen". Doch ob sie alle Akteure an einen Tisch bekommen, ist fraglich. Vorsicht, der Amtsschimmel wiehert hin und wieder.

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