Berlin und nicht Brüssel gibt den Takt vor

Vom 1. Dezember 2009 an hat die Europäische Union eine neue Vertragsgrundlage. Der Lissabon-Vertrag hat Notbremsen eingebaut, damit die EU nicht ihre Kompetenzen überzieht.

Von Petra Spielberg Veröffentlicht:

Das kurz Lissabon-Vertrag genannte Reformwerk regelt unter anderem die Aufgaben des Staatenverbundes in der Gesundheitspolitik. Oberstes Ziel ist es, die Gesundheit der 450 Millionen EU-Bürger zu schützen und zu fördern. Doch auch mit dem Lissabon-Vertrag bleibt es bei der Kompetenzverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der EU-Ebene. Das heißt: Die EU darf auch künftig nur das regeln, was auf nationaler Ebene nicht ausreichend geregelt werden kann. Beispiele sind die derzeit diskutierte Richtlinie zu den Rechten der Patienten bei Auslandsbehandlungen, europäische Vorschriften zur Organtransplantation sowie einheitliche Standards für Arzneimittel und Medizinprodukte.

Grenzüberschreitende Gefahren, ein Fall für die EU

Darüber hinaus ermächtigt der Lissabon-Vertrag die EU ausdrücklich dazu, bei grenzüberschreitenden Gesundheitsgefahren wie Grippepandemien tätig zu werden. Das Vertragswerk gibt beispielsweise die Möglichkeit vor, ein europaweites Beobachtungs- und Meldesystem einzurichten (Artikel 6). Diese Klausel ist auch ein Ergebnis der Erfahrungen mit der Vogelgrippe.

Die EU ist erstmals völkerrechtlich dazu verpflichtet, bei allen politischen Maßnahmen, die sie ergreift - egal in welchem Politikfeld - darauf zu achten, ein hohes Gesundheitsschutzniveau sicherzustellen (Artikel 9). Der Lissabon-Vertrag ermächtigt zudem die EU-Kommission, Leitlinien und Indikatoren festzulegen, um die Angleichung der Gesundheitssysteme voranzutreiben.

Damit sollen vor allem die gesundheitlichen Ungleichheiten beispielsweise bei der Säuglingssterblichkeit, die allgemeine Lebenserwartung oder die Unterschiede im medizinischen Versorgungsangebot bekämpft werden.

Eine im Lissabon-Vertrag eingebaute Notbremse soll dafür sorgen, dass Brüssel seine gesundheitspolitischen Kompetenzen bei neuen Regelungsinitiativen nicht überschreitet. Diese besteht in einem verbesserten Kontrollrecht durch die nationalen Parlamente - in Deutschland sind das Bundestag (und Bundesrat).

Sollte die EU-Kommission beispielsweise EU-weite Qualitätsstandards für die Gesundheitsversorgung vorschlagen, könnten die Parlamente mit diesem Verfahren verhindern, dass Brüssel die Kernkompetenz der Mitgliedstaaten für die Organisation ihrer Gesundheitssysteme aushöhlt.

Damit sie von dieser Möglichkeit auch Gebrauch machen können, muss die Brüsseler Behörde, die als einzige EU-Institution eine Gesetzgebungskompetenz besitzt, den nationalen Volksvertretungen sämtliche Richtlinien- und Verordnungsvorschläge umgehend zuleiten. Die Parlamente haben dann acht Wochen Zeit, die Vorschriften zu prüfen und falls nötig Einspruch zu erheben.

Günter Danner, Europaexperte der Techniker Kasse und stellvertretender Direktor der deutschen Sozialversicherungen in Brüssel, begrüßt die Signalwirkung, die von den verbesserten Beteiligungsrechten am Gesetzgebungsverfahren ausgehen. "Damit sind einer ordnungspolitischen Gestaltungskompetenz der EU in der Gesundheitspolitik klare Grenzen gesetzt worden", so Danner.

Deutschland soll gestalten, nicht nur zusehen

Damit das Instrument auch wirklich greifen könne, sei es aber erforderlich, die deutschen Interessen stärker als bisher zu bündeln. "Wichtig ist, dass wir Europa gesundheitspolitisch aktiv mitgestalten und nicht nur die Dinge sich entwickeln lassen", betont der Sozialrechtsexperte. Auch Renate Völpel, stellvertretende Leiterin im Büro des Landes Berlin bei der EU, geht davon aus, dass das Vetorecht die Sensibilität der EU-Beamten bei gesundheitspolitischen Gesetzgebungsvorschlägen erhöhen wird. "Das wirkt wie eine Schere im Kopf", so Völpel. Eine Gefahr der Harmonisierung der EU-Gesundheitssysteme sieht Danner nicht. Dafür sei allein schon das Gefälle in der medizinischen Versorgung der Mitgliedsstaaten viel zu hoch.

Viele Stolpersteine auf dem Weg zum Vertrag

Der Vertrag hat eine schwierige Entstehungsgeschichte.

15. Dezember 2001: Die Regierungschefs berufen einen "Konvent" ein, der eine Verfassung der EU ausarbeiten soll.

29. Mai 2005: Frankreich lehnt die Verfassung in einer Volksabstimmung ab. Drei Tage später verweigern auch die Niederländer ihre Zustimmung.

17. Juni 2005: Ein EU-Gipfel verkündet eine "Denkpause".

18./19. Oktober 2007: Die EU-Gipfelkonferenz einigt sich auf den endgültigen Vertragstext.

13. Dezember 2007: Vertrag wird in Lissabon unterzeichnet.

12. Juni 2008: Bei einem Referendum lehnen 53 Prozent der Iren den Vertrag ab.

2. Oktober 2009: Irland stimmt im zweiten Anlauf mit 67,1 Prozent zu.

29. Oktober 2009: Die Regierungschefs räumen mit einer Klausel für Tschechien die letzte Hürde beiseite. (dpa)

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