Kritik der Bundesbeauftragten

Sozialwahl ist keine "Wahl"

Die Sozialwahl ist intransparent, teuer und hat keine Legitimation, so Kritiker. Die Regierung wollte sie reformieren, doch die Umsetzung steckt fest. Die Bundesbeauftragte ist unzufrieden – und fordert sogar die Umbenennung der Wahl.

Alexander JoppichVon Alexander Joppich Veröffentlicht:
Die Beteiligung an der Sozialwahl lässt seit Jahren nach.

Die Beteiligung an der Sozialwahl lässt seit Jahren nach.

© Grafik/Ärzte Zeitung

NEU-ISENBURG. Bundestagswahl, Präsidentenwahl in Frankreich und, nicht zuletzt, die Sozialwahl: 2017 ist ein Jahr der großen Abstimmungen. Doch während die beiden ersteren in aller Munde sind, hat die Sozialwahl ein massives Imageproblem.

In der Bevölkerung ist sie wenig bekannt, gilt als teuer, intransparent und für manchen gar als unnötig. Selbst die Bundesbeauftragte für die Sozialversicherungswahlen, die frühere Abgeordnete Rita Pawelski, kritisiert, dass die überholten Regelungen der Sozialwahl nicht reformiert werden: "Wenn nicht eine große Koalition, wer dann sollte eine Reform des Sozialwahlrechtes in Angriff nehmen? Man darf schon enttäuscht sein."

Was ist die Sozialwahl?

Die Sozialwahl findet alle sechs Jahre statt, und das für alle Träger der gesetzlichen Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. Mit der Wahl entscheiden die Versicherten selbst, welche Mitglieder in ihre jeweiligen Selbstverwaltungsorgane entsandt werden. Meistens sind die Organe paritätisch besetzt – die Hälfte der Mitglieder stammt von Arbeitgeberseite, die andere von den Versicherten.

577 Mrd. Euro haben die Sozialversicherungen im Jahr 2015 eingenommen. Zum Vergleich: Die Steuereinnahmen von Bund, Ländern und Gemeinden beliefen sich auf rund 620 Milliarden Euro.

Die Selbstverwaltung der Sozialträger ist in Sozialgesetzbuch IV festgelegt und soll gewährleisten, dass die Träger näher an den Bedürfnissen ihrer Mitglieder orientiert sind, als es eine staatliche Verwaltung sein könnte. Sie wird deshalb als "dritter Weg" bezeichnet – eine Alternative zwischen staatlicher Lenkung und marktwirtschaftlicher Organisation. So entscheiden die Gremien wie die Vertreterversammlung oder der Verwaltungsrat beispielsweise über Satzungsleistungen der Krankenkassen, die Höhe des Zusatzbeitrags und die Besetzung der Vorstände.

Doch die Sozialwahl ist seit Jahren umstritten. Das Hauptproblem: Viele der rund 51 Millionen Wahlberechtigten interessieren sich nicht für die Wahl oder kennen sie nicht. So hatte die letzte Sozialwahl eine Wahlbeteiligung von 30,15 Prozent. Während die Veranstalter auf ihrer Webseite stolz von der "drittgrößten Wahl in Deutschland" sprechen, bezweifeln Kritiker ihre Legitimation.

Wahl ohne Wahl?

Ein Grund für die niedrige Beteiligung: Von den 206 Trägern haben 2011 nur zehn eine Urwahl durchgeführt. Bei den restlichen Trägern gab es sogenannte Friedenswahlen: Es existierten so viele Kandidaten auf den Wahllisten wie Plätze in den Gremien. Und: nur bei den wenigsten Trägern gibt es freie Listen, auf denen sich Versicherte selbst aufstellen können. Je nach Größe der Kasse müssen Versicherte bis zu 2000 Unterschriften sammeln, um eine Liste aufzustellen. Im Endeffekt werden ausgeklüngelte Vertreter von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden in die Selbstverwaltungsgremien befördert. Warum also wählen, wenn es keine Wahl gibt?

Dieses Problem sieht auch Pawelski. Die CDU-Politikerin sieht für die Abschaffung der Friedenswahlen derzeit keine Mehrheit im Bundestag, "weil Arbeitgeber und Gewerkschaften mit großer Leidenschaft für den Erhalt dieser Nichtwahlen eintreten". Stattdessen fordert sie auf Nachfrage der "Ärzte Zeitung" wenigstens die Umbenennung der Wahlen: Diese sollten "Benennung durch die Listenträger" heißen – aus "Respekt vor der Institution der ‚Wahl‘".

Allerdings sieht die Beteiligung für die Urwahlen nur unwesentlich besser aus: 33,5 Prozent statt der 30,15 Prozent insgesamt. Rechnet man die extrem hohe Wahlbeteiligung bei einer Berufsgenossenschaft heraus, liegt sie mit 30,3 Prozent nicht einmal 0,2 Prozent über dem Durchschnitt.

Hoher Kostenaufwand

Mit dem Akzeptanzproblem stellt sich die Frage, ob die Wahl einen so hohen Aufwand rechtfertigt: 46,3 Millionen Euro mussten die Träger letztes Mal nach Angaben des Sozialwahl-Abschlussberichts aufwenden – Kosten, die aus den Beiträgen der Versicherten bezahlt werden. Zum Vergleich: Für die Bundestagswahl hat der Bund den Ländern etwa 70 Millionen Euro überwiesen, um die Kosten zu decken. Während die einen deswegen in der Sozialwahl ein Kostengrab sehen, weisen zum Beispiel die Deutsche Rentenversicherung Bund und der Verband der Ersatzkassen auf niedrige Kosten pro Mitglied hin: Durchschnittlich 93 Cent kostet die Sozialwahl pro Wahlberechtigten.

Reformen bleiben stecken

Zu einer Aufwertung der Sozialwahl gibt es viele Reform-Ideen. Eine optionale Online-Wahl könnte zum Beispiel zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen: Die Kosten könnten sinken und mehr Menschen an die dann digitalen Wahlurnen treiben – vor allem Jüngere. Die Einführung der zusätzlichen Online-Wahl steht im Koalitionsvertrag von Union und SPD aus dem Jahr 2013. Doch diese Reform wurde nicht umgesetzt – laut Pawelski scheiterte sie auch am Widerstand von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden, die ursprünglich hinter der Idee standen.

Die Bundesbeauftragte kritisiert die mangelnde Kompromissbereitschaft der Fraktionen: "Die Verhandlungspartner fanden einfach nicht zueinander und waren anscheinend nicht in der Lage, Kompromisse einzugehen". Lieber wäre Pawelski, "sich zumindest auf ein paar Änderungen zu einigen". Bei der Besetzung der Wahllisten spricht sich die ehemalige Abgeordnete für eine Frauenquote aus, doch habe die Koalition hierfür keine rechtlichen Weichen gestellt. Nach ihren Appellen an die Listenmacher glaubt sie an eine Verbesserung des Mann-Frau-Verhältnisses, aber an keine Trendwende.

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