Für ihre Kunst verhäkelten die "irren" Frauen sogar ihr eigenes Haar

Von Ingeborg Bördlein Veröffentlicht:

"Irre ist weiblich". So provokativ wie ihr Titel ist die Ausstellung von Kunstwerken, die in psychiatrischen Anstalten internierte Frauen um 1900 geschaffen haben. In dem ehrgeizigen Projekt wird erstmals "nach den künstlerischen Interventionen von Anstaltspatientinnen" in dieser Zeit gefragt.

Aus dem Werkbestand von 87 Patientinnen innerhalb der weltberühmten Kunstsammlung psychiatrischer Patienten, die der Arzt Hans Prinzhorn gesammelt hat, wurden 57 ausgewählt. 170 Werke von ihnen werden in der Heidelberger Sammlung Prinzhorn gezeigt, darunter Briefe, Texte und Dokumente. Wichtigstes Anliegen dabei ist es, die Frauen ins Blickfeld zu rücken, die ihren Leidensdruck künstlerisch artikuliert haben.

Obwohl Frauen um 1900 sicher die Hälfte der Patientinnen in den Anstalten ausmachten, sind sie in der Sammlung Prinzhorn nur zu 20 Prozent vertreten. Die Erklärung ist einfach: Ihre künstlerische Kreativität wurde von den Anstaltsärzten - anders als bei den Männern - kaum beachtet und auch nicht gefördert. Waren Frauen einmal in die Psychiatrie eingewiesen, so hatten sie kaum Chancen, dem Anstaltsleben wieder zu entkommen.

Wie die Kunsthistorikerin Bettina Brand-Claussen bei einem Ausstellungsrundgang erklärt hat, erhielten sie meist auch härtere Diagnosen als die männlichen Patienten wie etwa "dementia praecox", was einem "lebenslänglich" gleichkam. Die Frauen waren meist entmündigt und ihrer Privatheit und Individualität beraubt. Sie trugen alle Anstaltskleidung, und die ärmeren unter ihnen waren in Sälen mit 30 bis 40 Betten untergebracht. In der Regel verbrachten sie den Tag mit Sticken, Nähen oder anderen Arbeiten. Bessere Bedingungen hatten lediglich die Privatpatientinnen, die etwa ein Viertel stellten.

Erstmals wurden für die Ausstellung Krankenakten in den Archiven penibel durchforstet und Lebensgeschichten rekonstruiert.

Die eindrucksvollen Kunstwerke sind in sieben thematische Bereiche eingeteilt: Räume abstecken; Stricken, Sticken, Kleben; Handfeste Dinge; Farbe bewegen; Frauen ohne Spiegel; Himmel und Erde; Handeln.

In Ermangelung von künstlerischem Handwerkszeug nutzten die Frauen für ihre gestalterischen Objekte alles, was sie in ihrer Umgebung fanden: Rezeptpapier, Bettleinen, Stoff der Anstaltskleidung. Sie verhäkelten sogar ihre eigenen Haare und griffen, um malen zu können auf ihr Blut oder eigene Exkremente zurück. Nur wenige Frauen wie die auch von Prinzhorn sehr geschätzte Else Blankenhorn hatten zum Beispiel Ölfarben für ihre Malereien.

Zu sehen sind etwa symbolträchtige expressive Stickarbeiten, die neben der Bewunderung für das handwerkliche Können dieser Frauen Hochachtung vor deren künstlerischer Phantasie hervorrufen: Ein Kleinod hinter Glas ist ein selbstgenähtes zierliches Jäckchen aus Anstaltsleinen, das vollständig auf der Außen- und Innenseite mit Texten bestickt ist. Die Näherin Agnes Richter hat es 1895 angefertigt. Sehr persönliche Dinge der Patientin sind darauf zu entziffern. Beeindruckend auch akribisch verfaßte "Schriftbilder" wie Briefe von Emma Hauck an den Ehemann oder der Brief an den Passauer Bischof von Emma Bachmayr, auf 1909 oder 1912 datiert.

Die Werke dieser Frauen - darunter auch Öl- und Aquarellbilder - sind Botschaften. Sie geben Einblicke in die Sehnsüchte der internierten Frauen nach einem geordneten bürgerlichen Leben, sie sind Ausdruck des Leidens und auch ihrer Wut über ihr langjähriges Dasein als Eingesperrte und Ausgesonderte. Aber sie zeigen auch, wie sich trotz sanktionierter Ausdrucksformen in der Anstalt kreative Kunst Bahn brach.

Einer der Höhepunkte der Ausstellung ist ein gestickter Bildteppich als private Leihgabe. Emma Mohr hat ihn in der Anstalt Halle-Nietleben zwischen 1872 und 1876 gefertigt. Es ist ein gestickter Protestbrief an den Kaiser: In 50 Bildern gibt sie Einblick in ihr früheres bürgerliches Leben. Auf der Rückseite ist ihre Leidensgeschichte in Stickschrift festgehalten.

Die Ausstellung in der Sammlung Prinzhorn am Universitätsklinikum Heidelberg, Voßstraße 2, ist bis zum 25. September zu sehen. Sie ist geöffnet von Dienstag bis Sonntag, 11-17 Uhr, und mittwochs bis 20 Uhr. Öffentliche Führungen: mittwochs 18 Uhr und sonntags 14 Uhr sowie Sonderführungen nach Vereinbarung (Telefon: 0 62 21-56 4739).

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