"Eine fantastische administrative Fehlleistung"

BERLIN (ddp). Eine vage formulierte Entscheidung brachte den Stein ins Rollen: Völlig unerwartet fiel in den Abendstunden des 9. November 1989, heute vor 15 Jahren, die Berliner Mauer, die 1961 von der DDR als steinerner Grenzwall zwischen dem Ost- und dem Westteil der Stadt errichtet worden war.

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Das SED-Politbüromitglied Günter Schabowski hatte gegen 19 Uhr auf einer internationalen Pressekonferenz bekannt gegeben, daß Visa für Privatreisen in den Westen nun auch "ohne Vorliegen von Voraussetzungen beantragt" werden könnten. Genehmigungen dafür würden "kurzfristig erteilt". Er bezog sich auf eine brandneue Reiseverordnung, die von der hilflosen SED-Führung als Reaktion auf die massiven Forderungen nach Reisefreiheit auf den Weg gebracht worden war.

Wenige wollen Mauer zurück

15 Jahre nach dem Mauerfall sind 83 Prozent der Bundesbürger der Ansicht, daß die Vereinigung beider deutscher Staaten richtig war - 15 Prozent finden sie dagegen "nicht richtig". Im Osten sagen dies acht, im Westen 17 Prozent, berichtete die Mannheimer Forschungsgruppe Wahlen, die dazu kürzlich 1683 Bundesbürger befragt hat. In Westdeutschland findet zudem jeder Zweite, der Osten erhalte zu viel Förderung.

Die Zustimmungswerte zur Deutschen Einheit seien nach einem Anstieg in den vergangenen Jahren wieder leicht gefallen. Jeder zehnte Bundesbürger fände es gut, wenn es wieder zwei deutsche Staaten geben würde, darunter viele niedrig gebildete oder in einer schwierigen finanziellen Situation befindliche Menschen. Im Westen sind dies elf und im Osten sechs Prozent. (dpa)

Die Zeithistoriker sind sich heute einig: Der Fall der Mauer wurde weder von Schabowski verkündet, noch war er von der DDR-Führung so gewollt. Aber nicht nur sie, auch die Politiker und Regierungsapparate in Bonn, in Moskau und Washington, in London und Paris wurden von der Öffnung der bis dahin scharf bewachten Staatsgrenze überrascht.

Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU), notierte der Bonner Historiker Heinrich Potthoff, reagierte auf die neue Reiseverordnung "zunächst skeptisch, ohne innere Freude, eher geprägt durch ‚die Ungewißheit, wie es weitergehen soll‘".

Kanzlerberater Horst Teltschik, gerade mit Kohl zu einem Staatsbesuch in Warschau, schrieb in sein Tagebuch: "Die Stimmung in der Kanzlersuite wechselt zwischen Hoffnung und Bangen; Hoffen, daß dies der Anfang vom Ende des SED-Regimes ist, Bangen, daß eine Massenflucht in die Bundesrepublik ausgelöst werden könnte."

Condoleezza Rice und Philip Zelikow vom Nationalen Sicherheitsrat der USA interpretierten den Mauerfall als "Irrtum" und sprachen von einer der "phantastischsten administrativen Fehlleistungen" der ostdeutschen Führung. Diese habe "die schwerwiegendste Entscheidung ihrer gesamten Geschichte den Menschen auf der Straße überlassen".

In der Tat sind es die Menschen auf der Straße, die am 9. November handeln und die neue Reiseregelung als Signal zum Mauerfall umdeuten. Während die DDR-Oberen in Sprachlosigkeit verharren, das staatliche Fernsehen und die staatliche Nachrichtenagentur ADN unkommentiert den Wortlaut des neuen Reisegesetzes verkünden, "übernehmen die Westmedien die Interpretationshoheit", wie es der Hamburger Zeithistoriker Klaus Körner ausdrückte.

Die ARD-Tagesschau meldet: "DDR öffnet Grenze". Die Mauer, berichtet ein Reporter, "soll über Nacht durchlässig werden". Tagesthemen-Moderator Hanns-Joachim Friedrichs verkündet um 22.42 Uhr, daß "die DDR-Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore in der Mauer stehen weit offen."

Zehntausende brechen noch spätabends zu den Grenzübergangsstellen auf, um West-Berlin einen Kurzbesuch abzustatten. Die verunsicherten Grenzsoldaten lassen ihre Mitbürger gegen Vorlage des Personalausweises ungehindert passieren. Am Brandenburger Tor klettern Menschen über die Mauer und spazieren durch das seit 1961 unzugängliche Tor. Bundeskanzler Kohl reagiert nun mit den Worten: "Jetzt wird Weltgeschichte geschrieben."

Frust sitzt im Osten tief

Protestwahlen, Demos gegen Reformen, anti-westdeutsche Stimmungen - 15 Jahre nach dem Fall der Mauer sind viele im Westen aufgeschreckt vom tief sitzenden Frust bei vielen Ostdeutschen. Ein Vergleich mit anderen ehemals realsozialistischen Ländern zeigt jedoch: Erhebliche Enttäuschung und Ablehnung des demokratischen Politikbetriebs sind Jahre nach dem Umbruch keine ostdeutsche Besonderheit.

"Es ist fast wie ein Naturgesetz: Nach der enormen Mobilisierung der Menschen in der Endphase des alten Regimes kommt die Enttäuschung", sagt Wolfgang Merkel, Direktor der Abteilung Demokratie am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung. Die Erwartungen seien in allen ehemaligen Ostblockländern hochfliegend gewesen, so Merkel: "Das Tal der Tränen ist dann viel tiefer."

Eine oft geäußerte These: Gerade die Milliarden für den Osten hätten die Stärkung eines gesunden Selbstbewußtseins bei den Empfängern verhindert. Im Zentrum der Kritik am "Jammertal Ost" ("Der Spiegel") stehen angeblich in Ostdeutschland besonders ausgeprägte Ansprüche an den Staat. Diese herrschen nach neuen Erkenntnissen des Soziologen Jörg Jacobs von der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) aber keineswegs durchgängig vor: Nur jeder fünfte Ostdeutsche meint, die Regierung müsse einen hohen Lebensstandard garantieren.

Für eine ehemals realsozialistische Gesellschaft mit staatlicher Rundumversorgung sei dies ein vergleichsweise niedriger Wert. In Ungarn hielten 30 und in Polen sogar 40 Prozent den Staat für hauptverantwortlich für den Lebensstandard. Bei der Unzufriedenheit mit der heutigen Gesellschaftsordnung liegt Ostdeutschland jedoch weit vorne. Fast zwei von drei Ostdeutschen finden die Gesellschaftsordnung insgesamt heute "ungerecht" (57 Prozent). In Polen sind es 51, in Tschechien 50, in Ungarn nur 43 Prozent. (dpa)

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