"Kinsey", ein neuer Film, der die Amerikaner empört

Von Ronald D. Gerste Veröffentlicht:

Zum dritten Mal in diesem Jahr erregt in den USA ein Film die Gemüter. Anders als bei "Passion of the Christ" und "Fahrenheit 9/11" geht es bei "Kinsey" eigentlich weder um den Glauben noch die Politik, sondern um die Wissenschaft. Doch jener Zweig der Forschung, um den Alfred C. Kinsey sich verdient gemacht hat, ist in den USA alles andere als unpolitisch: die Sexualkunde.

Christliche Konservative laufen gegen die am Wochenende in die Kinos gekommene filmische Biographie des Mannes Sturm, der wie kein anderer die sexuellen Gewohnheiten der modernen Menschen mit der Kraft des standardisierten Fragebogens erforscht hat.

Der Film ist religiös-fundamentalistischen Gruppen ein Dorn im Auge, weil Kinsey als Wissenschaftler dargestellt wird, was er nach Einschätzung von Organisationen mit so klingenden Namen wie "Focus on the Family" und "Concerned Women for America" nicht war, sondern ein Sittenstrolch und Förderer von Homosexualität, Pädophilie und anderem Unaussprechlichem.

Kinseys Haltung zu Abstinenz gilt heute als verwerflich

Darüber hinaus wird im Film deutlich, wie absurd Kinsey und mit ihm Generationen von Sexualmedizinern die Vorstellung fanden, Abstinenz sei das einzige erfolgversprechende Mittel zur Geburtenregelung wie zur Prävention von Geschlechtskrankheiten. Diese ist im Amerika des Jahres 2004 indes offizielle Regierungspolitik und wird es die nächsten vier Jahre auch bleiben.

Der Wissenschaftler wird von Liam Neeson ("Schindlers Liste") überzeugend verkörpert. Der Film zeigt die bedrückenden Umstände, unter denen Kinsey aufwuchs: ein Vater, der als Prediger wider alle Fleischeslust wettert und nicht nur Automobile und Telefone, sondern auch den Reißverschluß als Sendboten einer zutiefst unmoralischen Moderne geißelt.

Der junge Biologe wird Spezialist für eine bestimmte Wespenart, von der er mehr als eine Million Exemplare sammelt, um überrascht festzustellen: keine von ihnen gleicht der anderen. Mit Hilfe eines ihm ergeben Teams von Mitarbeitern erforscht er mit gleicher Akribie das Sexualverhalten seiner Landsleute. Das Ergebnis sind zwei epochale Veröffentlichungen zum Sexualverhalten des Mannes (1949) und der Frau (1953). Beide Bücher werden Bestseller - nicht zuletzt, weil jeder Leser, jeder Leserin erkennt, daß niemand mit seinen Sehnsüchten, Neigungen und Träumen allein ist.

Kinsey wird heftigst angefeindet, vor allem sein zweites Werk wird von Konservativen als Verunglimpfung der amerikanischen Frau bezeichnet - als ob eine anständige Amerikanerin Gefallen an Fellatio finden könne!

"Kinsey" spricht zweifellos kein Massenpublikum an: außer Biologen und Medizinern vor allem an der Biographie des Wissenschaftlers Interessierte, Zeitzeugen der von ihm mit ausgelösten Sexuellen Revolution und "Jetzt-erst-recht"-Liberale. Voyeure sollten "Kinsey" meiden. Visuell kämen sie nur bei einer Hörsaal-Szene auf ihre Kosten, in der anatomische Dias vor einem teilweise geschockten Studentenpublikum an die Wand projiziert werden; die Liebesakte sind so grobkörnig-schattig gefilmt, daß manche Musikvideos expliziter sind.

Sexualforschung spielt sich heute im Untergrund ab

Natürlich ist der Besuch des Films ein Muß für Kinseys Jünger, Amerikas moderne Sexualforscher. Die Stimmung der frühen Fünfziger Jahre, die das Werk zu vermitteln versucht, könnte ihnen bekannt vorkommen. Sexualforschung, so schrieb die New York Times zur Premiere des Films, spielt sich im modernen Amerika im wissenschaftlichen Untergrund ab. Der Kongreß hat mehrfach mit der Kürzung der Fördermittel für Projekte gedroht, die sich allzu offensichtlich mit Fragestellungen beschäftigen, die als schmutzig angesehen werden wie etwa die Physiologie körperlicher Erregung.

Forscher sprechen von einem Ausmaß an Einschüchterung, wie es in den letzten Jahrzehnten unbekannt gewesen war. Zur Decouvrierung ihrer Aktivitäten sind viele Sexualwissenschafter dazu übergegangen, einen Sprachcode zu verwenden, der das Offensichtliche zu vernebeln sucht: aus "geschlechtlich" wird zum Beispiel "fruchtbarkeitsbezogen".

Nach dem bisherigen Stand der Planungen soll "Kinsey" am 3. März 2005 in deutsche Kinos kommen.

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