Knochen und Prothesen erzählen von der Entwicklung der Orthopädie

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Von Sabine Hock

Vom Schädel, den die Tuberkulose wie ein Schrotschuß durchlöchert hat, bis zum Schienbein, das ein bösartiger Tumor großflächig angefressen hat: Dieser Mann hatte scheinbar keinen gesunden Knochen im Leib. Doch der Bemitleidenswerte mußte nicht wirklich alles durchleiden, wovon sein Skelett zeugt.

Für das Deutsche Orthopädische Geschichts- und Forschungsmuseum wurde der Knochenmann vielmehr aus Präparaten verschiedener Skelette zusammengesetzt. So demonstriert er fast alle Krankheiten, Verletzungen und Fehlbildungen, die die Orthopädie zu bekämpfen und zu heilen bestrebt ist. Seine Knochen erzählen, daß schon die Neandertaler an Arthrose erkrankten und daß die Menschen in Europa bereits vor 4000 Jahren die Tuberkulose fürchten mußten.

Seit 1995 ist das Deutsche Orthopädische Geschichts- und Forschungsmuseum in Frankfurt am Main beheimatet. Gegründet 1959 in Würzburg, mußte es dort aus Platzgründen weichen. Sein jetziges Domizil stellt die Frankfurter Orthopädische Universitätsklinik, Stiftung "Friedrichsheim", in ihrem Gebäude unentgeltlich zur Verfügung.

Das Museum wird getragen von einem Verein unter Vorsitz von Professor Ludwig Zichner, dem Ärztlichen Direktor des "Friedrichsheims", und unterstützt von der "Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und orthopädische Chirurgie". Die 1998 eröffnete Dauerausstellung spricht das Fachpublikum genauso an wie interessierte Laien. Allein in der Frankfurter "Nacht der Museen" 2004 drängten sich über 600 Besucher in den drei Räumen.

Fast auf den ersten Blick offenbart sich bei einem Rundgang durchs Museum ein entscheidender Wandel innerhalb der Orthopädie: Während heute meist ältere Menschen behandelt werden, zeigen die historischen Patientenbilder noch bis in die ersten Nachkriegsjahre hinein vorwiegend Kinder und Jugendliche.

"Das gerade Kind" war Ziel der medizinischen Fachrichtung gleichen Titels, die der französische Arzt Nicolas Andry 1741 begründete. In seinem Werk "Orthopädie oder die Kunst, bey den Kindern die Ungestaltheit des Leibes zu verhüten und zu verbessern" machte er den damals revolutionären Vorschlag, bei Kindern die eigentlich als gottgegeben geltenden Verkrümmungen der Wirbelsäule und der Beine mit Hilfe von Schienen zu korrigieren.

Andry verglich den Orthopäden mit einem Gärtner, der einen verwachsenen Baum an einen kräftigen Pfahl bindet, um die Fehlstellung im Zuge des Wachstums allmählich auszugleichen. Ein Baum mit gekrümmtem Stamm ist seitdem das Wahrzeichen der Orthopädie.

Die Ausstellung blickt auch aus sozial- und kulturgeschichtlicher Sicht auf die Orthopädie. So wird daran erinnert, daß orthopädisch Kranke und Körperbehinderte im offiziellen Sprachgebrauch lange "Krüppel" genannt wurden, bis sie selbst sich gegen diese Bezeichnung wehrten. Auch das "Friedrichsheim" geht auf eine 1908 gegründete Initiative für ein "Krüppelheim" im Rhein-Main-Gebiet zurück.

Die gezeigten Apparaturen zur Krankengymnastik aus jenen Gründerjahren muten dagegen fast an wie aus einem Fitneßstudio. Bereits im ausgehenden 19. Jahrhundert hatte der schwedische Arzt G. J. W. Zander die Idee, die Heilgymnastik einer Maschine zu übertragen. In der allgemeinen Technikbegeisterung der Zeit kam die "Zandertherapie" regelrecht in Mode, bis sie wegen ihrer hohen Kosten zu Beginn des Ersten Weltkriegs in Vergessenheit geriet.

Die Behandlung der Verwundeten zu Kriegszeiten stellte die Orthopädie vor immer neue Aufgaben. So wurde beispielsweise auch die Prothetik infolge der Kriege weiterentwickelt. Davon zeugt auch die Reihe der Exponate von der Eisernen Hand des Götz von Berlichingen aus dem 16. Jahrhundert bis zur ebenso berühmten "Sauerbruch-Hand" von 1916.

Trotz aller gezeigten anatomischen Präparate, medizinischen Geräte, physiotherapeutischen Apparate und orthopädietechnischen Hilfsmittel präsentiert sich das Deutsche Orthopädiemuseum nicht als "Gruselkabinett". Die Ausstellungsmacher, Museumsleiter Professor Ludwig Zichner sowie seine Fachkollegen Dr. Michael A. Rauschmann und Professor Klaus-Dieter Thomann, verstehen das Museum vielmehr als Ort der Erforschung, Dokumentation und Bewahrung der Geschichte ihres Fachs.

Tatsächlich gingen von der Frankfurter Einrichtung schon wichtige Anregungen für wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Orthopädiegeschichte aus. Für die Forscher ist die Museumsbibliothek natürlich ein besonderer Schatz. Mit etwa 6000 Bänden, von denen die ältesten aus dem 16. Jahrhundert stammen, ist die Sammlung die größte Spezialbibliothek für Orthopädiegeschichte in Deutschland.

Das Deutsche Orthopädische Geschichts- und Forschungsmuseum in der Orthopädischen Universitätsklinik, Stiftung "Friedrichsheim", Marienburgstr. 2, 60528 Frankfurt am Main, ist derzeit montags bis freitags, 10 bis 12 Uhr, und nach Vereinbarung (Tel. 069/6705-377) geöffnet. Wegen einer anstehenden organisatorischen Veränderung zum Jahresende wird empfohlen, ab 1.1.2005 die neuen Öffnungszeiten telefonisch (069/6705-0) zu erfragen.

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