"Er war nervös, empfindlich, neigte leicht zu Depressionen"

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Von Friedrich Hofmann

Als ich unlängst nach Taschenbüchern von Thomas Manns Töchtern Monika und Erika suchte, sah ich die literarische Produktion der Familie Mann alle in einer Reihe stehen - die Romane von Heinrich Mann, die Lebenserinnerungen seines (und Thomas’) Bruders Viktor, die Memoiren von Thomas’ Frau Katja, die Romane von Klaus und Frido Mann und die historischen Werke Golo Manns - doch einer aus der Familie fehlte im Regal, nämlich der "Zauberer" selbst: Ratlos schaute ich mich in der Buchhandlung um, bis ich schließlich doch noch fündig wurde - auf der gegenüberliegenden Seite in der "Klassik"-Abteilung: Da standen sie zwischen G wie Goethe und N wie Novalis: die 1901 erschienenen "Buddenbrooks", für die der Autor 1929 den Nobelpreis erhielt, der 1924 publizierte "Zauberberg", aber auch der 1947 veröffentlichte "Doktor Faustus", der "Felix Krull" von 1954 und nicht zuletzt die 1995 abgeschlossene stolze Reihe der zehn Tagebuchbände. Thomas Mann, so mußte ich zur Kenntnis nehmen, war kurz vor seinem heutigen 130. Geburtstag und seinem 50. Todestag (am 12. August) endgültig in die Rubrik "Deutsche Klassiker" aufgenommen worden.

Berühmter Autor und moralische Institution

Wenn wir uns angesichts der Gedenktagfülle die Frage stellen, warum die Figur Thomas Mann für uns auch heute noch interessant ist, warum Bücher über seine Familie nach wie vor hohe Auflagen erreichen und warum sein Ruhm anders als der seiner deutschen Nobelpreiskollegen Gerhart Hauptmann, Hermann Hesse oder Heinrich Böll keine Verschleißerscheinungen kennt, dann wird man nur eine einzige Antwort parat haben: Anders als die genannten Autoren war Mann bereits zu Lebzeiten nicht nur ein berühmter Autor, sondern eine moralische Institution.

So mischte er sich nicht nur in vielfältiger Weise in das aktuelle politische Geschehen ein, sondern ließ auch das breite Spektrum seiner Interessen - von der Musik über die Religion und die Geschichte bis hin zur Politik - in seine Essays, Erzählungen, Romane und Reden einfließen. Und gerade heute, in einer Zeit, da wir an das Ende des Zweiten Weltkriegs vor 60 Jahren denken, müssen wir einmal mehr zur Kenntnis nehmen, daß Thomas Mann einer der wichtigsten intellektuellen Hitler-Gegner wurde, als er mit seinen berühmt gewordenen Rundfunkansprachen aus dem Exil gegen die braunen Machthaber verbal zu Felde zog.

Manns Werk birgt Faszination für Mediziner

Daß man auch als Mediziner heute noch unweigerlich der Faszination des Mannschen Werks erliegt, hat seinen Grund nicht nur in dem regen Interesse des Autors an der ärztlichen Tätigkeit (wie sie etwa im "Zauberberg" eine Rolle spielt), sondern auch an seiner minutiösen Schilderung der eigenen körperlichen und psychischen Beschwerden, etwa in den Briefen an Freunde und Schriftstellerkollegen.

"Sehr geehrter Herr Hesse", schrieb er vor 95 Jahren an den Dichterfreund (im Alter von 34 Jahren!): "Meine zur Zeit schlechte Gesundheit ist schuld, daß ich erst jetzt dazu kommen, Ihnen für Ihren freundlichen Brief...zu danken". Und dann wird - die Briefsammlung umfaßt mehrere Jahrzehnte - seitenlang über die Gicht, den Herpes Zoster, unangenehme Ekzeme an diversen Körperregionen und Magen-Darm-Beschwerden philosophiert - im übrigen durchaus so amüsant, daß die Lektüre keineswegs langweilig wird.

Wie sehr den vielbeschäftigten Autor seine (tatsächlichen wie eingebildeten?) Krankheiten nicht nur plagten, sondern auch interessierten und sogar stimulierten, wird bei der Lektüre der Tagebücher deutlich, deren Edition erst 40 Jahre nach seinem Tod abgeschlossen werden konnte. Der zehnte Band behandelt dabei die aus medizinischer Sicht besonders interessanten letzten Jahre seines Lebens, den Zeitraum von 1953 bis 1955, den das Ehepaar Mann nach seiner Rückkehr aus den USA in der Schweiz verbringt.

Einmal mehr fasziniert den Leser dieser Tagebücher die Tatsache, daß selbst kleine und kleinste Dinge notiert und sogar der Zigarrenkauf und der Zigarettenverbrauch schriftlich bilanziert werden. Im Mittelpunkt der Eintragungen stehen aber ohne Zweifel (in dieser Reihenfolge) die literarische Produktion, der Gesundheitszustand und familiäre Angelegenheiten.

"Kein Schlaf, sondern zuckende Unruhe"

"Hörte um Mitternacht dem Geläut der Kirchenglocken zu", heißt es am 1. Januar 1953. "Nachts gestört von Hautjucken in den Ohren und an den Beinen. Zusätzlich Sekanol..." Und schon auf der nächsten Seite geht es weiter mit den Klagen: "Kein Schlaf, sondern zuckende Unruhe bis 1/2 2. Nahm dann noch ein Sekanol, worauf Ruhe eintrat." Und noch einmal eine Seite weiter notiert der Dichter: "Gegen Morgen Husten, Tropfen... Drückende Zahnprothese."

Was Mann am meisten Sorgen bereitet, ist der immer wieder befürchtete Niedergang seiner literarischen Produktion - obwohl objektiv alles dagegen spricht, denn mit dem "Felix Krull", seiner gewaltig dimensionierten Schillerrede und dem Versuch über Tschechow beweist er, daß er nach wie vor auch mit 79 Jahren noch zu den produktivsten Schriftstellern seiner Zeit gehört.

Am 29. Juli 1955 - genau zwei Wochen vor seinem Tod - heißt es: "Rauche kaum, 3 Cigaretten...Lese Einsteins ,Mozart‘ -- Lasse mir’s im Unklaren, wie lange dies Dasein währen wird. Langsam wird es sich lichten." Wenige Wochen nach seinem Tod notiert seine Frau Katja lakonisch: "Kein Mensch hat gedacht, daß Thomas Mann 80 würde und kein Mensch hat überhaupt daran gedacht, daß er... bis zu seinem 80. Geburtstag so leistungsfähig sein würde. Er war nervös, empfindlich, neigte leicht zu Depressionen, aber das tun wohl die meisten Künstler..."

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