"Das hat doch überhaupt nichts mit Realität zu tun!"

Von Martin U. Müller Veröffentlicht:

Universitätsklinikum Aachen, 7:27 Uhr, 9. Etage, Unfallchirurgische Station 20. Zwei Damen in grün gestreiften Hemden versorgen die Station aus Frühstückscontainern. Die eine kichert, die andere scheint dagegen erbost: ",Lachen, lachen!’, haben die immer gesagt. Das hat doch überhaupt nichts mit der Realität zu tun!" Ihre Kollegin nickt zustimmend.

5800 Mitarbeiter hat das Großklinikum, von außen scheint der wuchtige Bau eine Mischung aus Industriegebäude und Raumschiff. Fast 1500 Betten stehen in den vielen Räumen. Doch auf allen Gängen des Hauses gibt es heute morgen nur ein Thema: Fünf Kamerateams spüren Patientengeschichten hinterher - im Auftrag des Privatsenders RTL. Das Ergebnis flimmert - zunächst 50 Folgen lang vormittags unter dem Titel "Unsere Klinik - Ärzte im Einsatz" über die Mattscheiben. Über eine Millionen Menschen sehen jeden Tag zu, weitere Folgen sind wahrscheinlich.

8:06 Uhr: Die Patientin und Protagonistin des heutigen Hauptbeitrags betritt mit ihren Eltern und einem Rollenkoffer die Station. 26 Jahre ist die Rechtspflegerin alt, und in etwa drei Stunden wird sie auf dem Operationstisch liegen. Ihre Schulter kugelte sie sich wiederholt aus, und Unfallchirurg Dr. Michael Lörken soll das Problem heute ein für allemal lösen. Mit dabei: RTL.

Das Kamerateam stört die Familie wenig - Medien als Chronisten einer Epikrise? Schulter- und Fernsehpatientin Antje Neu hat eine griffige Erklärung für ihre Einwilligung zum Dreh parat: "Ich hoffe, daß die Ärzte mehr aufpassen, wenn die Öffentlichkeit zuschaut." Ansonsten führen Patienten auch die Langeweile des Stationsalltags an.

Koordiniert werden die Dreharbeiten seitens des Klinikums von Dr. Ursula Fabry. "Unsere Klinik" ist ihre Klinik. Die Ärztin steht als fachliche Beraterin zu Seite und erzählt von den internen Diskussionen um das Sendeformat im eigenen Haus: "Ein Argument des Vorstandes für die Zustimmung zu den Dreharbeiten war, damit die Angst vor dem riesengroßen Kasten abbauen zu können. Zu zeigen, daß hier trotz der Größe auch Menschen arbeiten, die jeden Tag menschlich handeln, und man als Patient mehr als nur eine Nummer ist."

Sie erzählt von "Sozialhygiene für das Pflegepersonal" durch Würdigung der Arbeit in der Öffentlichkeit und Schwierigkeiten mit den Kinderärzten der Klinik, die eine Zusammenarbeit mit dem Fernsehteam strikt ablehnen. Besonders dankbar über die mediale Aufmerksamkeit sei außer der Unfallchirurgie die Geburtshilfe.

Daß auch "Unsere Klinik" kein realistisches Abbild eines Krankenhauses zeigt, wird bei der Fallauswahl schnell klar. Konsequent scheinen komplexe Krankheitsbilder ausgespart. So lassen sich in 27 Minuten Spielzeit für drei Fälle kaum Chemotherapien oder gar ungewisse Prognosen unterbringen.

Die Münchner Kommunikationswissenschaftlerin Constanze Rossmann hat in einer Studie klassische Fehler von Krankenhausserien im Vergleich zur Realität herausgearbeitet. Sie hat festgestellt, daß erheblich zu viele Verletzungen gezeigt werden würden, Krebskranke und ältere Patienten dagegen kommen in den meisten TV-Darstellung auf deutschen Sendern zu kurz. So auch bei diesem Format, welches den Anspruch einer völligen Authentizität vorgibt.

Die Uhr zeigt 11:05. Zwölf Atemzüge pro Minute stößt das Beatmungsgerät in die Lungen von Antje Neu, die Sauerstoffsättigung liegt bei 98 Prozent, Chirurg Lörken setzt den ersten Schnitt. Der diensthabende Anästhesist Bernd Dohmen möchte nicht ins Bild. "Ich bezweifle, daß Patienten in solch einer Situation, trotz aller Einwilligung, gefilmt werden wollen."

Daß nicht alle mitmachen wollen, ist für das RTL-Team in Ordnung. Umso besser scheint die Zusammenarbeit mit Lörken. In aller Ruhe erzählt er auch gerne dreimal und vor allen nur denkbaren Motivhintergründen, was "denn nun genau gemacht worden" sei. Und erste Fans hat der Arzt auch schon. So drehen sich seine Kollegen im Krankenhaus auf den Gängen um, und Patienten freuen sich: Das ist ja der Fernseharzt!

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