Gemüseschnitzel schmecken immer mehr Deutschen

Der russische Schriftsteller Leo Tolstoi (1828-1910) war für sein radikal fleischloses Essen bekannt. Der Arzt und Musiker Albert Schweitzer (1875 bis 1965) wechselte am Ende seines Lebens zur vegetarischen Ernährung. Speisen ohne tierisches Fett und Eiweiß haben seither auf bundesdeutschen Speisekarten feste Plätze erobert.

Von Katlen Trautmann Veröffentlicht:
Vegetarierkampagne mit Polizeischutz: Die ehemalige Baywatch-Darstellerin Traci Bingham mit dem Plakat einer Vegetarier-Kampagne in Berlin.

Vegetarierkampagne mit Polizeischutz: Die ehemalige Baywatch-Darstellerin Traci Bingham mit dem Plakat einer Vegetarier-Kampagne in Berlin.

© Foto: dpa

"Der Vegetarismus ist in der Normalität angekommen", sagt der Vorsitzende des Vegetarierbundes Deutschland (VEBU), Thomas Schöneberger. Knapp jeder zehnte Deutsche verzichtet Umfragen zufolge inzwischen völlig auf Fleisch. Jeder Vierte gibt an, weniger Fleisch zu verzehren. Nach 30-jährigem Kampf um Akzeptanz sind Vegetarier damit vom Rand in die Mitte der bundesdeutschen Gesellschaft gerückt.

Galt das tägliche Schnitzel der Großelterngeneration als Symbol sozialen Aufstiegs, sehen die Enkel es in einem anderen Licht. "Die Vorstellung, eine Mahlzeit ohne Fleisch sei nicht komplett, gilt als überholt", erzählt Schöneberger. Heute muss sich niemand mehr für vegetarische Kost rechtfertigen. "Im Gegenteil, immer mehr Menschen fühlen sich aufgefordert zu erklären, warum sie Fleisch und Wurst essen", berichtet der VEBU-Chef. Ähnlich wie beim Rauchen habe in der Wahrnehmung eine Trendumkehr eingesetzt.

Verzehrte jeder Bundesbürger 1988 rund 70 Kilogramm Fleisch, kommen gegenwärtig jährlich etwa 60 Kilo auf Teller, Spieße und Grills. Rund 80 Milliarden Euro kostet die Behandlung von Patienten mit ernährungsbedingten Krankheiten in Deutschland jedes Jahr.

Beim 38. Weltvegetarierkongress in Dresden vor wenigen Wochen standen gesellschaftspolitische Fragen und der Tierschutz im Mittelpunkt der Vorträge. Etwa 700 Anhänger des Vegetarismus diskutierten in der sächsischen Landeshauptstadt den "fleischlos glücklichen Lebensstil". Vor 100 Jahren hatten Vorgänger das auf dem ersten Weltvegetarierkongress an gleicher Stelle getan.

Körner und Karotten spielten auf der Veranstaltung eher eine Nebenrolle. "Vegetarismus versteht sich als Mitgefühl mit Tieren", sagte der Theologe Eugen Drewermann in seinem Vortrag auf der mit Sonnenblumen, Getreide und Kürbissen geschmückten Bühne im Kulturpalast. Es könne nicht darum gehen, Vegetarismus diätetisch zu verteidigen. "Wir wollen den gesellschaftlich-normativen Rahmen verschieben", drückt es auch Schöneberger aus.

Moderne "Körneresser" stehen in einer Jahrtausende alten Tradition. Vegetarismus gab es zuerst in Indien und im griechischen Kulturkreis. Der erste Vegetarierverein Europas fand sich in England zusammen, wo man der Idee am stärksten aufgeschlossen gegenüber stand. Deutschland zog rund 80 Jahre später mit dem "Deutschen Vegetarier-Bund" mit Sitz in Leipzig nach. Als prominente Wortführer der Bewegung gelten Mahatma Gandhi (1869-1948), der irische Dramatiker George Bernard Shaw (1856-1950), Albert Einstein (1879- 1955) und das Dirigenten-Genie Yehudi Menuhin (1916-1999).

Streit über den medizinischen Wert dieser Ernährungsform gab es zu allen Zeiten. Bei abwechslungsreichem Speisezettel haben erwachsene Vegetarier keine Mangelernährung zu befürchten, so die überwiegende Meinung in der Wissenschaft.

Schon die alten Griechen lebten fleischlos.

Fleischlose Kost bei Kindern wird dagegen konträr diskutiert. Eisenmangel stellt für einige Vegetarier ein Problem dar, für andere dagegen nicht. Supplementierung empfiehlt der VEBU beim Vitamin B 12 (Cobalamin) vor allem Veganern. Diese Gruppe der Vegetarier verzichtet auf jegliches tierisches Eiweiß, auch auf Milch und deren Produkte. Das wasserlösliche Cobalamin trägt zur Produktion von roten Blutkörperchen bei und kommt nur in tierischen Produkten vor.

Die Verträglichkeit hängt laut VEBU von der persönlichen Lebensphase und den Genen ab. Die Grünen-Abgeordnete Barbara Rütting im bayrischen Landtag verzichtet seit Jahren auf Fleisch. "Ich fühle mich fitter als mit 30 Jahren und habe noch nie so gern gelebt", so die 80-jährige Parlamentarierin.

Die schlanke und agile Politikerin verfasste mehrere Kochbücher über bewusste Ernährung. Ihr 1979 erschienenes "Koch- und Spielbuch für Kinder" wählte der Ärztinnenbund zu einem der zehn besten Kinderbücher und gab ihm den Preis der "Silbernen Feder".

Der VEBU will nach eigenem Bekunden niemanden missionieren. "Wir haben keine Vorschläge für Eskimos und indigene Völker", so Schöneberger. Nordeuropa sei das Ziel. Die VEBU-Geschäftsstelle bietet auf Nachfrage Listen vegetarischer Ärzte in allen Bundesländern. Dass mancher sein Schnitzel mehr schätzt als gesundheitliche Hinweise - dessen sind sich die Vegetarier bewusst. Barbara Rütting: "Wir können nicht die ganze Welt zu Vegetariern machen."

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