Eine fürsorgliche, fleißige und fachkundige Frauenärztin

Sie half armen und schwangeren Frauen in Not und wurde oft zu Entbindungen an Fürstenhäuser gerufen: Die erste deutsche Frauenärztin Charlotte Heidenreich von Siebold starb vor 150 Jahren.

Von Ruth Pons Veröffentlicht:
Erste deutsche Frauenärztin: Charlotte Heidenreich von Siebold.

Erste deutsche Frauenärztin: Charlotte Heidenreich von Siebold.

© Foto: Verlag Degener & Co

Als Charlotte Heidenreich von Siebold im Mai 1819 der Herzogin von Kent bei der Entbindung zur Seite stand, konnte sie nicht wissen, dass sie der späteren Queen Victoria ins Leben half. Und als die erste promovierte Frauenärztin Deutschlands drei Monate später auf Schloss Rosenau die Geburt von Albert von Sachsen-Coburg-Gotha überwachte, war ihr ebenso wenig klar, dass auch der künftige Gatte der britischen Königin in spe die ersten Schreie in Charlottes Armen tat.

Der Stiefvater war Landarzt

Charlotte Heidenreich von Siebold hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts weit über Deutschland hinaus einen Namen als Gynäkologin gemacht. Wegen ihrer freundlichen Art und ihrem hohen Sachverstand wurde sie an viele Fürstenhöfe gerufen, um werdenden Müttern beizustehen. Bis zu ihrem Tod vor 150 Jahren am 8. Juli 1859 galt ihre Fürsorge jedoch vor allem armen und Not leidenden Frauen und Müttern.

Charlotte wurde am 12. September 1788 in Heiligenstadt als erstes Kind des Regierungsrates Georg Heiland und seiner Frau Josepha geboren. Nach dem frühen Tod des Vaters heiratete die Mutter den aus Göttingen stammenden Arzt Damian von Siebold. Er adoptierte die fünfjährige Charlotte und ihre jüngere Schwester Therese und gab ihnen seinen Namen.

Von Siebold stammte aus einer bedeutenden Arztfamilie, war jedoch selber zunächst nur ein einfacher Landarzt. Um das Familienauskommen aufzubessern, arbeitete seine Frau Josepha in der Praxis mit. Sie machte Hausbesuche, engagierte sich in der Krankenpflege und studierte später sogar Medizin. "Hier war es, wo der Wunsch nach dem Beispiele und im Fache meiner Eltern der Menschheit nützlich zu sein, in mir lebhaft rege wurde", schilderte Charlotte später ihr Elternhaus.

Das wissbegierige Mädchen saß immer öfter in der Hausbibliothek und las Werke über Anatomie und Physiologie. Als der Vater das Interesse von Charlotte erkannte, gab er ihr theoretischen Unterricht, von ihrer Mutter kamen praktische Anweisungen hinzu, später erhielt sie Lektionen in vielen Fächern der Medizin, vor allem aber in der Geburtshilfe.

Mit großer Entschlossenheit widmete sich Charlotte ihrem Ziel, Frauenärztin zu werden, 1811 ging sie nach Göttingen und studierte als erste Frau bei dem berühmten Mediziner und Hospitaldirektor Friedrich Benjamin Osiander, der ein großer Verfechter des Gebrauchs von Geburtszangen war. Osiander wollte Charlotte zunächst nicht unterrichten, da er gegen das Frauenstudium war. Doch er fühlte er sich gegenüber Charlottes Stiefvater verpflichtet und musste schließlich sogar zugeben, dass Charlotte eine "fleißige und geschickte Schülerin" sei.

Doktorarbeit über Bauchhöhlenschwangerschaft

Im September 1814 erteilte ihr das Großherzogliche Medicinal-Collegium in Darmstadt nach einer Prüfung die Erlaubnis zur Ausübung der Geburtshilfe. 1817 durfte sie als erste Frau in ihrem Fach promovieren. In Gießen legte sie ihre 23-seitige Doktorarbeit "Über Schwangerschaft außerhalb der Gebärmutter und über eine Bauchhöhlenschwangerschaft insbesondere" vor und erhielt den Titel "Doktorin der Geburtshilfe". Damit hatte sie erreicht, was ihrer Mutter noch verwehrt geblieben war: Josepha hatte 1815 lediglich die Ehrendoktorwürde der Entbindungskunst erhalten.

Ihre Doktorinarbeit, in der sie die zurückhaltende Anwendung der Geburtszange empfahl, schickte Charlotte an Osiander. Dieser fühlte sich kritisiert und holte zum Gegenschlag aus: "Sie gibt einen klaren Beweis ab, wie weit sie schon von meinen Lehrsätzen abgewichen ist, und ich kann nicht stolz sein, sie gebildet zu haben, denn ich glaubte nie, dass beim Unterricht charakterloser Weiber und Mädchen viel Erfreuliches herauskomme", schrieb er erbost über Charlotte.

Mittellose Frauen wurden umsonst behandelt

Doch Charlotte kümmerte das Urteil ihres Lehrmeisters nicht. Sie stieg in die elterliche Entbindungsanstalt in Darmstadt ein, bildete Hebammen aus und widmete sich der Armenfürsorge. Mittellose Frauen behandelte sie umsonst und kümmerte sich auch um Nahrung, Wäsche und Unterkünfte. "Sie ist seit fast drei Wochen keine Nacht ruhig im Bett geblieben, da die Stadt so groß ist und so viele Leute im 3. Stock wohnen", schrieb ihre Schwester 1923 in einem Brief.

Bei Freunden und Bekannten sammelte Charlotte Geld für eine bessere Ausstattung des Darmstädter Bürgerhospitals. 1829 heiratete sie im Alter von 41 Jahren den 14 Jahre jüngeren Militärarzt Dr. August Heidenreich. 1845 gründete sie in Darmstadt ein geburtshilfliches Institut für arme Bürgerinnen. Unermüdlich setzte sie sich bis an ihr Lebensende für eine Verbesserung der Lebenslage von Frauen und Müttern ein.

Nach ihrem Tod mit 71 Jahren wurde in Darmstadt eine Straße nach ihr benannt und die Heidenreich-von Sieboldsche Stiftung zur Unterstützung armer Wöchnerinnen gegründet. Zu ihren Mitgliedern zählten auch die Kaiserin von Russland und die Königin von England. Die Stiftung ging 1948 in der Darmstädter Stiftung für Wohltätigkeitszwecke auf. Heute ist nach ihr das Förderungsprogramm für den weiblichen wissenschaftlichen Nachwuchs an der medizinischen Fakultät der Universität Göttingen benannt.

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