"Es ist, als existiere man immer weniger"

Der Selbstmord von Gunter Sachs hat die Angst vor der Diagnose Alzheimer ins öffentliche Interesse gerückt. In vier neuen Büchern beschreiben Patienten ihr Leben mit der Krankheit. Die Erfahrungsberichte zeigen: Mit Alzheimer hört das Leben nicht auf.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Einige Patienten mit Alzheimer berichten von einer intensiven Beziehung zur Familie.

Einige Patienten mit Alzheimer berichten von einer intensiven Beziehung zur Familie.

© Lisa F. Young / Fotolia.com

Die Diagnose Alzheimer ist für Betroffene oft schlimmer als Krebs. Einige treibt sie in den Suizid, wie jüngst Gunter Sachs, die meisten lässt sie verstummen. Wurde über Alzheimer bislang nur aus Sicht der pflegenden Angehörigen und Fachleute geschrieben, so melden sich seit kurzem immer häufiger Patienten selbst zu Wort.

Sie erzählen, was sie fühlen, denken oder hoffen und gewähren Einsichten, die unser Verständnis der Krankheit grundlegend verändern.

Wie fühlt sich Alzheimer an? "Als lebe man in einer Wolke", antwortet der niederländische Wissenschaftler René van Neer. "Jegliche Ordnung ist verschwunden." Und: "Es gibt nichts mehr, das einem Halt gibt. Es ist, als existiere man immer weniger."

Richard Taylor, ehemals Professor für Psychologie in den USA, formuliert es so: "Ich traue mir selbst nicht mehr über den Weg und weiß nicht, ob ich sage, was ich meine, und meine, was ich sage."

Beide haben ein Buch über ihre Erfahrungen mit Alzheimer geschrieben. Während Taylor seine Innensicht in kurzen Essays artikuliert ("Alzheimer und Ich"), erhält René van Neer bei der Formulierung seiner Gedanken Hilfe von seiner Tochter Stella Braam ("Ich habe Alzheimer").

Taylor weinte "drei Wochen lang Tag für Tag", als er, 58-jährig, die Diagnose erfuhr. Van Neer blieb, zumindest nach außen, gelassen. "Na, zum Glück ist es kein Gehirntumor", meinte der 74-Jährige, um später hinzuzufügen: "Alzheimer ist ein Abenteuer. Ich lasse mich darauf ein."

Worunter leiden Betroffene am meisten? "Mein größtes Problem ist, dass ich nicht sprechen kann", antwortet der US-Journalist Bill. "Das ist wirklich hart. Ich kann Gedanken entwickeln, sie aber nicht äußern. Ich fange Sätze an und weiß nicht, wie ich sie zu Ende bringen soll."

Bill ist einer von sieben Patienten, die Lisa Snyder für ihr Buch "Wie sich Alzheimer anfühlt" befragt hat. Snyder arbeitet im Shiley-Marcos Alzheimer's Disease Research Center der University of California in San Diego.

Von Bea, einer weiteren Interviewpartnerin, erhielt Snyder die Antwort: "Das Schlimmste für mich ist, mir morgens meine Hose anzuziehen." Booker, 82, machen die Reaktionen seiner Umwelt zu schaffen: "Wenn ich etwas vergesse, möchte ich freundlich behandelt werden. Unfreundlichkeit ruft Widerstand hervor."

Alzheimer-Patienten sind schwierig: aggressiv, verstockt, unruhig und nervig. Das ist die Sicht von so manchem Angehörigen, Pfleger oder Arzt. Dass viele ihrer Reaktionen geradezu provoziert werden, wissen nur die Betroffenen selbst.

Als größtes Problem empfinden sie die Bevormundung: Die "Gesunden" wissen alles besser! Sie bestimmen, da sich viele Patienten ja nicht verständlich machen können - jedenfalls nicht in der Zeit, die man ihnen dafür zugesteht. So kommt es vor, dass Ärzte, Pfleger und Angehörige Entscheidungen treffen, die an den Bedürfnissen der Betroffenen vorbeigehen, und über Patienten sprechen, als wären sie gar nicht da. Und dann wundern sie sich über trotzige Reaktionen.

"Man wird behandelt wie ein Kind", bringt es Helen Merlin in einem Gespräch mit der Journalistin Beate Lakotta auf den Punkt. Lakotta hat gemeinsam mit anderen Autoren ein Buch zum Thema "Demenz - was wir darüber wissen, wie wir damit leben" herausgebracht und dafür unter anderem mit Betroffenen der Alzheimer Gesellschaft München gesprochen.

"Wenn die Demenz anerkannt würde als Behinderung, dann würde ich unterstützt und integriert", so Merlin, die an Lewy-Körperchen-Demenz leidet. "Dann würde ich mich auch outen. Aber so ist es nur ein Stempel: Die können nichts mehr! Dabei kann ich noch viel."

Einige Patienten stehen noch im Beruf, andere managen daheim ihren Alltag allein. Mit Alzheimer hört das Leben nicht auf: Das ist die vielleicht bedeutendste Botschaft der vielen Erfahrungsberichte. Alzheimer lässt auch Freuden zu, Alzheimer ist nicht nur Verlust, sondern Gewinn. "Man wird milder mit sich", schreibt Helen Merlin. "Ich freue mich über alles, was ich gut mache."

Richard Taylor hat erfahren, dass sich die Beziehungen zu seiner Familie und seinen Freunden durch die Krankheit vertieft haben: "Wir verbringen ganz bewusst mehr Zeit miteinander. Wenn wir zusammen sind, reden wir mehr, wir umarmen uns öfter, wir weinen öfter und lachen öfter, lauter und länger."

Bill schließlich empfindet das Leben mit Alzheimer ungezwungener als das Leben ohne: "Ich habe Spaß an Dingen, die Kindern Spaß machen. Ich werde nicht mehr zur Verantwortung gezogen wie früher. Ich kann machen, was ich will."

Literatur

Stella Braam: Ich habe Alzheimer. Wie die Krankheit sich anfühlt. Beltz. Weinheim 2011. 192 Seiten. 17.95 Euro.

Lisa Snyder: Wie sich Alzheimer anfühlt. Verlag Hans Huber. Bern 2011. 224 Seiten. 22.95 Euro.

Annette Bruhns, Beate Lakotta, Dietmar Pieper (Hrsg.): Demenz. Was wir darüber wissen, wie wir damit leben. DVA. München 2010. 304 Seiten. 19.99 Euro.

Richard Taylor: Alzheimer und Ich. Leben mit Dr. Alzheimer im Kopf. Verlag Hans Huber. Bern 2010. 261 Seiten. 22.95 Euro

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