Auschwitz-Arzt, Lichtgestalt, Mordhelfer

Er gehörte zu den Angeklagten im 1. Auschwitz-Prozess, galt dort zunächst als Lichtgestalt - und wurde dann doch wegen Beihilfe zum Mord in mindestens 1000 Fällen verurteilt: Der Elmshorner Gynäkologe Dr. Franz Lucas wäre am 15. September 100 Jahre alt geworden.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Dr. Franz Lucas bei seiner erkennungsdienstlichen Behandlung Anfang der 1960er Jahre.

Dr. Franz Lucas bei seiner erkennungsdienstlichen Behandlung Anfang der 1960er Jahre.

© Fritz Bauer Institut

FRANKFURT/MAIN. Ehemalige Häftlinge nannten ihn "anständig" und "gut", in der Öffentlichkeit galt er als Beweis dafür, dass ein Arzt dem Gebot "Primum non nocere" auch in der Hölle der Konzentrationslager treu bleiben konnte.

Und doch hat auch Dr. Franz Lucas an Selektionen teilgenommen, wie er spät zugab. Am 15. September wäre Lucas 100 Jahre alt geworden.

Franz Bernhard Lucas kommt als Sohn eines Metzgers 1911 in Osnabrück zur Welt. 1933 macht er sein Abitur und studiert zunächst vier Semester Philologie in Münster, bevor er nach Rostock zieht und dort ein Medizinstudium aufnimmt, das er 1942 in Danzig mit der Promotion zum Dr. med. abschließt.

Truppenarzt in Nürnberg und Belgrad

Im Jahr 1933 tritt er in die SA ein und ein Jahr später wieder aus, 1937 wird er Mitglied der SS, ein Jahr später der NSDAP.

Nach Kriegsbeginn ist Lucas als Truppenarzt in Nürnberg und Belgrad tätig, erhält aber 1943, eigenen Angaben nach wegen defätistischer Äußerungen, den Marschbefehl nach Auschwitz.

Hier wirkt er von Dezember 1943 bis Spätsommer 1944, weitere Stationen sind die Konzentrationslager Mauthausen, Stutthof, Ravensbrück und Sachsenhausen. Im März 1945 taucht Lucas zunächst in Berlin unter und flieht nach Kriegsende gen Westen.

In Elmshorn erhält er eine Anstellung am Stadtkrankenhaus, dem Entnazifizierungsverfahren konnte er sich erfolgreich entziehen. Rasch steigt er vom Assistenzarzt zum Oberarzt und schließlich zum Chefarzt der Gynäkologischen Abteilung auf.

Angeklagter im Auschwitz-Prozess

Als Anfang der 60-er Jahre Anschuldigungen gegen ihn laut werden, wird er von der Klinikleitung entlassen. Wenig später eröffnet Lucas eine Privatpraxis, ebenfalls in Elmshorn.

Am 20. Dezember 1963 beginnt in Frankfurt der 1. Auschwitz-Prozess, der größte Strafprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte. Angeklagt sind 22 ehemalige Angehörige der Lagermannschaft von Auschwitz, einer von ihnen: Dr. Franz Lucas.

Zunächst gilt der Arzt als Lichtgestalt unter Schlächtern. "Die Behandlung der Häftlinge durch Dr. Lucas war anständig", sagt etwa der Zeuge Wojciech Barcz am 9. April 1964 aus.

Beihilfe zum Mord in 1000 Fällen

"Zu der Zeit, als er Lagerarzt war, gab es keine Selektionen", gibt der Lagerarzt Professor Wladislaw Fejkiel zu Protokoll. "Dass ein SS-Offizier einem jüdischen Häftlingsarzt oder einem Kranken Verpflegung bringt, war so etwas, das grenzt an Wunder", meint Ex-Häftling Aron Bejlin.

Kurz vor Weihnachten 1964 reist Lucas als einziger der 22 Angeklagten mit zur "Augenscheinseinnahme" nach Auschwitz - ein symbolträchtiges Bild, das um die Welt geht.

Plötzlich die Wende: Am 11. März 1965 gibt Lucas erstmals zu, entgegen seinen früheren Äußerungen "drei- bis viermal an Selektionen in Auschwitz teilgenommen" zu haben - auf Befehl.

Vor allem dieser Aussage wegen wird er am 20. August 1965 wegen Beihilfe zu gemeinschaftlichem Mord in mindestens 1000 Fällen bei mindestens vier Selektionen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt.

Verhalten war "verurteilenswert"

Im Februar 1969 jedoch hebt der BGH das Urteil auf. In einer Neuverhandlung vor dem Frankfurter Landgericht wird Lucas freigesprochen, weil er "nicht mit Täter-, sondern nur mit Gehilfenwillen" gehandelt habe. Eine Entschädigung für die verbüßte Untersuchungshaft erhält er nicht.

Denn bei "aller strafrechtlich schuldlosen Verstrickung des Angeklagten", heißt es im Beschluss des Schwurgerichts vom 8. Oktober 1970, sei "sein Verhalten vom allgemeinen sittlichen Standpunkt aus doch verurteilenswert".

Dafür, dass er im KZ Ravensbrück an Häftlingen Sterilisationen vorgenommen hat, wird er nicht belangt. Bis 1983 ist Lucas als Privatarzt tätig und stirbt 1994 in Elmshorn.

"Lucas hat in Auschwitz an Mordtaten mitwirken müssen, die er wohl abgelehnt hat", so die Einschätzung von Werner Renz, Mitarbeiter des Fritz Bauer Instituts in Frankfurt am Main.

"Die Tatsache aber, dass er nicht alles unternahm, um sich der Tatbeteiligung zu entziehen, macht ihn mitschuldig."

Den häufig strapazierten Hinweis auf den Befehlsnotstand oder die so genannte Putativnotwehr lässt Renz nicht gelten: "Alle Nachforschungen der Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in Ludwigsburg haben keinen Fall ergeben, bei dem ein die Tötungsbefehle verweigernder Angehöriger der SS entsprechend belangt worden wäre. Man konnte sich der Teilnahme an Selektionen entziehen."

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