Bühne frei für peinliche Deppen

Peinlich, peinlich. Ein Mann gibt sich bewusst der Lächerlichkeit preis, er weiß genau, dass er sich blamiert. Beobachter empfinden Scham. Der Duden hat diese Reaktion seit 2009 neu ins Vokabular aufgenommen - Fremdschämen heißt der Begriff. Die Wissenschaft sucht nach Erklärungen.

Von Sabine Schiner Veröffentlicht:
Dieser Herr macht sich offensichtlich zum Affen.

Dieser Herr macht sich offensichtlich zum Affen.

© Klaus-Peter Adler / fotolia.com

Der Posaunist fällt mitten im Konzert vom Stuhl, beim Hochzeitswalzer stürzen Braut und Bräutigam rücklings auf die Hochzeitstorte, und der Nachrichtensprecher hat seinen Text vergessen und schaut verlegen in die Kamera.

Peinliche Szenen aus dem Alltag sind in tausenden YouTube-Videos im Internet jederzeit abrufbar.

In Mode gekommen ist das Fremdschämen, das Unterhaltungssendungen wie "Deutschland sucht den Superstar" oder "Germanys Next Topmodel" provozieren.

600 Freiwillige bewerten peinliche Situationen

Peinlich heißt, man fühlt sich verlegen und beschämt. Das Wort "Pein" beinhaltet aber auch Leid und Schmerz.

Nicht nur semantisch liegen Scham und Schmerzen nah beieinander: Wissenschaftler der Philipps-Universität in Marburg haben mit Hilfe von MRT-Untersuchungen herausgefunden, dass, wenn man sich für andere schämt, vergleichbare Gehirnareale im Hirnstamm und Kleinhirn aktiv sind, wie wenn man die körperlichen Schmerzen eines andern Menschen mitfühlt.

Um herauszufinden, ob man sich auch schämt, wenn der andere merkt, dass er gerade ins Fettnäpfchen tritt oder nicht, konfrontierten die Forscher 600 Freiwillige mit peinlichen Situationen, indem sie ihnen schematische Darstellungen zeigten von Menschen, denen beim Bücken die Hose platzt, die einen angeberischen Kettenanhänger trugen oder die im Kino laut telefonierten.

Ergebnis: Das Gefühl der Scham stellte sich unabhängig davon ein, ob sich die beobachtete Person nun blamiert fühlte oder nicht.

Fliegende Torten in noblen Restaurants, Menschen, die über ihre eigenen Beine stolpern, Handwerker, die ein Haus aus Versehen in Schutt und Asche legen: Die Filme von Komikern wie Stan & Ollie leben von Situationen, bei denen man vor Scham im Boden versinken müsste.

Und sie leben von der Schadenfreude, also von der Lust, sich über das Unglück der Anderen lustig zu machen. Für Schadenfreude sorgt auch das RTL-Dschungelcamp, bei dem C- und D-Promis Kakerlaken schlucken, mit Krokodilen baden und mit Maden überschüttet werden.

Oder TV-Sendungen wie "Pleiten, Pech und Pannen", bei denen Menschen gefilmt werden, wie sie ausrutschen und hinfallen. Schadenfreude hat eben auch viel mit Bosheit zu tun.

Chef hält Vortrag mit offenem Hosenstall

Und sie ist mit einem schlechten Gewissen verbunden. Etwa, wenn der Fußballer den Ball auf die Nase bekommt und blutet. Oder wenn man dem Chef dabei zusieht, wie er mit offenem Hosenstall einen Vortrag hält.

Schadenfreude wird, im Unterschied zum Schmerzenfühlen und Fremdschämen, in anderen Bereichen des Gehirns verarbeitet. Das Wort Fremdschämen steht übrigens erst seit 2009 als Verb im Duden und bedeutet, "sich stellvertretend für andere, für deren als peinlich empfundenes Auftreten schämen".

In der Wissenschaft wird die Fremdscham noch nicht als "eigenständiges und von herkömmlicher Scham zu unterscheidendes Gefühl angesehen", sagt der Kölner Arzt für Psychosomatik und Psychotherapie Dr. Herbert Mück.

Der Mechanismus ist hingegen bekannt: "Die Gehirnzellen simulieren, was wir gerade beobachten, so als würden wir das Beobachtete selbst vornehmen. Wenn unsere Aufmerksamkeit also auf jemanden gerichtet ist, dem gerade Peinliches widerfährt, vermittelt uns unser Gehirn sofort eine Vorstellung davon, wie sich so etwas für uns selbst anfühlen würde," erklärt Mück.

Jammerlappen in der Midlife-Crisis

Talentschows wie "Germany`s Next Topmodel" oder Comedy-Serien wie "Stromberg" liefern "Fremdscham dank peinlicher Situationen frei Haus", so die beiden Marburger Studienautoren Dr. Sören Krach und Frieder Paulus.

Da stolpern angehende Top-Models über den Laufsteg, trifft der Möchtegern-Superstar nicht einen einzigen Ton, wird der "fieseste Chef der Welt" in der Midlife-Krise zum Jammerlappen. Fremdscham kann übrigens auch im Doppelpack mit der Scham zusammen auftreten.

"Der Fernsehzuschauer könnte sich zusätzlich zur Fremdscham auch deswegen selbst schämen, weil ihm bewusst wird, dass er es offenbar nötig hat, sich solche peinliche Sendungen anzusehen", sagt Mück.

Vielleicht werde ihm in Form der Scham auch bewusst, dass er letztlich solche Sendungen fördert, indem er sie sich immer wieder anschaut. Eine Therapie gegen unerwünschtes Fremdschämen hat jeder Fernsehbesitzer bei sich im Wohnzimmer: Es ist die Aus-Taste auf der Fernbedienung.

Der Mechanismus der Scham

Mit der Angst vor Peinlichkeiten und dem Mechanismus der Scham setzt sich an diesem Wochenende auch ein Theaterabend in Berlin auseinander. Dazu wurden auch Psychologen und Vertreter anderer Berufsgruppen, die sich mit diesen Themen beschäftigen, eingeladen.

Am 10., 11. Und 12. Februar um 20 Uhr zeigt der Theaterdiscounter das Stück "PS: Und ich weine, wenn ich will". Es basiert auf dem US-Spielfilm "Der Partyschreck" mit Blake Edwards von 1968.

Peter Sellers spielt darin einen indischen Komparsen, der es auf einer Dinnerparty eines Filmproduzenten schafft, das ganze Haus in ein Schaumbad zu verwandeln. "Die Inszenierung ist die Einladung zu einer Schamparty: Come as you are", heißt es auf der Homepage.

www.theaterdiscounter.de

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