Zeitzeugen berichten: Professor Oliver Brüstle

Bei Stammzellen ist Realismus angesagt

Professor Oliver Brüstle, Arzt und Stammzellforscher, hat die Höhen und Tiefen in der Stammzellforschung in den vergangenen Jahren hautnah erlebt. Er ist davon überzeugt, dass humane embryonale Stammzellen weiterhin eine wichtige Bedeutung für die Therapie und die Wirkstoffentwicklung haben werden.

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Professor Dr. Oliver Brüstle

Aktuelle Position: Direktor des Instituts für Rekonstruktive Neurobiologie, LIFE & BRAIN Center, Uni Bonn

Werdegang/Ausbildung: geb. 1962 in Ulm, aufgewachsen in Biberach/Riß Medizinstudium an den Universitäten in Ulm und Chapel Hill.

Karriere:1989 bis 1997 als Arzt und Forscher in Zürich, Erlangen und Bethesda / Maryland tätig. Anschließend Arbeitsgruppenleiter am Institut für Neuropathologie in Bonn bis zur Berufung 2002 auf den Lehrstuhl für Rekonstruktive Neurobiologie.

Ärzte Zeitung: Sie sind Neuropathologe. Was hat Sie am meisten gereizt, sich gerade der Stammzellforschung zu verschreiben?

Professor Oliver Brüstle: Stammzellen bieten einzigartige Möglichkeiten, menschliche Zellen verschiedenster Organe künstlich im Labor herzustellen. Das ist besonders interessant für Gewebe, die ansonsten nicht zugänglich sind, wie etwa das Nervensystem.

Hier bieten sich erstmals Möglichkeiten, praktisch unbegrenzte Mengen von Nervenzellen herzustellen - zum einen, um Krankheitsprozesse direkt an menschlichen Zellen zu studieren und Wirkstoffe zu testen, zum andern, um Spenderzellen für den Zellersatz zu gewinnen - beides Richtungen, an denen wir hier in Bonn forschen.

Ärzte Zeitung: Im vergangenen Jahr wurden 50 Jahre Stammzellforschung gefeiert. Was waren für Sie die großen Entwicklungen in den vergangenen Dekaden?

Brüstle: Ganz große Entwicklungen gab es vor allem im Bereich der pluripotenten Stammzellen. 1981 wurden erstmals embryonale Stammzellen der Maus beschrieben, 1998 die Gewinnung humaner ES-Zellen durch James Thomson in Madison.

Dazwischen gelang 1997 mit Dolly der Nachweis, dass das genetische Programm einer ausgereiften Körperzelle in das Stadium einer Eizelle zurückprogrammiert werden kann. Das hat das Feld unglaublich inspiriert und letzten Endes auch den Weg für die Zellreprogrammierung geöffnet.

Der große Wurf gelang dann Shinya Yamanaka aus Japan, der im Jahr 2006 an der Maus und ein Jahr später am Menschen zeigte, dass Hautzellen mit Hilfe weniger Transkriptionsfaktoren in so genannte induziert pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) reprogrammiert werden können.

Mit dieser Technik können wir heute mühelos unbegrenzte Mengen von Gehirn- und Rückenmarkszellen aus einer zwei Millimeter großen Hautprobe oder auch aus Blutzellen gewinnen.

Damit ist es zum Beispiel nun möglich, genetisch bedingte Erkrankungen direkt an den von der jeweiligen Krankheit betroffenen Nervenzellen zu erforschen und die Wirksamkeit von Medikamenten für den einzelnen Patienten zu überprüfen.

Auch die Herstellung autologer Zellen für den Zellersatz und der Aufbau von Spenderbanken ähnlich zur Knochenmarkstransplantation sind Entwicklungen, an denen intensiv gearbeitet wird.

Allerneueste Befunde schließlich zeigen, dass Körperzellen nicht nur in pluripotente Stammzellen reprogrammiert werden können. So ist es mittlerweile mit Hilfe entsprechender Transkriptionsfaktoren möglich, Hautzellen direkt in Nervenzellen umzuprogrammieren.

Damit wird die Umwandlung von einem Zelltyp zum anderen noch einfacher und schneller - und kann vielleicht in Zukunft sogar im lebenden Gewebe gelingen.

Ärzte Zeitung: Wann rechnen Sie mit dem ersten zelltherapeutischen Produkt aus dieser Forschung?

Brüstle: Klinische Studien zur Behandlung der Makuladegeneration mit aus humanen ES-Zellen gewonnenen Retinalpigmentepithelzellen laufen bereits, und die ersten Daten zu Überleben der Zellen und möglichen Nebenwirkungen sehen gut aus.

Klinische Zelltransplantationsverfahren bei Morbus Parkinson sind an mehreren Zentren in Vorbereitung. Weitere Ansätze wie etwa zur Behandlung von Myelinkrankheiten oder Rückenmarksverletzungen befinden sich noch in präklinischer Erprobung.

Dies gilt auch für den Einsatz transplantierter Stammzellen für die zellvermittelte Gentherapie etwa bei Speichererkrankungen.

Ärzte Zeitung: Sind iPS-Zellen eine Alternative zu den humanen embryonalen Stammzellen?

Brüstle: Das ist heute nicht mehr die richtige Frage. Mit ES-Zellen, iPS-Zellen und der direkten Zellumprogrammierung stehen uns heute ganz verschiedene Wege offen, die jeweils ihre Vor- und Nachteile haben. In Zukunft wird man aus diesem Arsenal die für die jeweilige Anwendung passendste Zelle auswählen.

In puncto Therapie und Sicherheit stellen ES-Zellen unter diesen drei Alternativen bislang die beste Variante dar. Das liegt auch daran, dass reprogrammierte Zellen genomisch gesehen immer so alt sind, wie die Ausgangszelle, aus der sie gewonnen wurden.

Mutationen, die sich im Lauf des Lebens etwa in Hautfibroblasten angesammelt haben, verschwinden ja durch die Reprogrammierung nicht.

Auch die Reprogrammierungsverfahren selbst bergen derzeit noch Sicherheitsrisiken. Hinsichtlich Krankheitsforschung und Wirkstoffentwicklung hingegen bieten reprogrammierte Zellen entscheidende Vorteile - weil sie direkt vom Patienten gewonnen werden können.

Ärzte Zeitung: Werden nicht noch immer zu große Hoffnungen etwa bei Alzheimer- oder Parkinson-Patienten geweckt?

Brüstle: Man muss sich hüten, zu früh zu große Hoffnungen zu wecken. Stichwort Alzheimer: Seit Jahren betone ich immer wieder, dass ein Zellersatz bei der Alzheimerschen Erkrankung nicht absehbar ist.

Dennoch wird diese freilich jedem bekannte Erkrankung von vielen Medien immer wieder gerne als Kandidat aufgeführt. Für Erkrankungen wie Morbus Parkinson hingegen werden bereits klinische Studien vorbereitet. Aber auch hier ist Realismus angesagt: Es ist vermessen zu glauben, eine Zelltherapie könnte alle Symptome beseitigen.

Wie medikamentöse Therapien werden auch Zellersatztherapien - so sie denn erfolgreich sind - nur einen Beitrag zur Behandlung leisten können. Es ist die Crux von neuen Hochtechnologien, dass an sie regelmäßig unerfüllbare Hoffnungen geknüpft werden.

Realistisch betrachtet steht die Therapieentwicklung auf Grundlage humaner ES-Zellen gar nicht so schlecht da. In der klassischen Wirkstoffentwicklung rechnet man von der Rohsubstanz bis zu klinischen Studien grob zehn Jahre.

Wir sehen 14 Jahre nach Erstbeschreibung humaner ES-Zellen die ersten klinischen Anwendungen bei komplexen Erkrankungen wie der Makuladegeneration. Betrachtet man zudem all die Hindernisse, die dieses Feld überwinden musste und immer noch muss, ist das ein durchaus akzeptabler Zeitraum.

Dem langsamen systematischen Fortschreiten dieses Feldes an ausgewiesenen Zentren steht leider eine ganze Palette unseriöser Angebote verschiedenster Kliniken im In- und Ausland gegenüber, die vorgeben, mit Stammzellen verschiedener Couleur nahezu alle Erkrankungen behandeln zu können.

Hier sind Politik, regulatorische Behörden und Ständevertretungen gleichermaßen aufgefordert, entschiedener einzugreifen. Denn unseriöse Therapieangebote schaden nicht nur den Patienten, sie verursachen auch einen Vertrauensverlust gegenüber der Stammzellforschung an sich.

Ärzte Zeitung: Im Oktober 2011 hat der Europäische Gerichtshof Ihre Klage zurückgewiesen und entschieden, dass Erfindungen auf Basis humaner embryonaler Stammzellen - sowohl die Zellen als auch die Verfahren - nicht patentierbar sind. Wie sehr wirft das Ihre eigene Forschung zurück?

Brüstle: Die rein akademische Forschung ist frei und wird dadurch nicht zurückgeworfen. Allerdings bewirken Patentierungsverbote dieser Art, dass in der Grundlagenforschung entwickelte Verfahren nicht von Unternehmen aufgegriffen werden und in den Universitäten stecken bleiben.

Technologien wie Stammzell-basierte Verfahren sind aufwändig und aufgrund der schnellen wissenschaftlichen Entwicklung und des enormen Wettbewerbs finanziell hoch riskant. Kein Investor und kein Unternehmen wird sich engagieren, wenn sie sich nicht vor Kopierern schützen können - und genau dazu braucht es Patente.

Für mich ist es ein Anachronismus, dass Unternehmen in Großbritannien und den USA ES-Zellverfahren gerade bis zur klinischen Erprobung entwickelt haben und der EuGH zeitgleich mit Patentierungsverboten dieses junge Gebiet in Europa zerstört.

Ärzte Zeitung: Können Sie die Bedenken von Gegnern der Forschung mit humanen embryonalen Stammzellen nachvollziehen?

Brüstle: Korrekt ist, dass für die Gewinnung embryonaler Stammzellen überzählige befruchtete Eizellen aus der In-vitro-Fertilisation eingesetzt werden. Per definitionem entspricht eine befruchtete Eizelle einem menschlichen Embryo im frühestmöglichen Stadium.

Korrekt ist aber auch, dass solche tiefgefrorenen Eizellen weltweit hunderttausendfach weggeworfen werden, weil sie nicht anderweitig eingesetzt werden können. Korrekt ist ferner, dass viele der gängigen empfängnisverhütenden Mittel darauf abzielen, den frühen Embryo an der Einnistung in die Gebärmutter zu hindern und ihn so zum Absterben bringen.

Eine weitere Tatsache sind über 100.000 Abtreibungen pro Jahr allein in Deutschland - davon weniger als fünf Prozent aus medizinischer Indikation.Diese Beispiele verdeutlichen, dass in unserer Gesellschaft bereits völlig unterschiedliche Sichtweisen hinsichtlich der Schutzwürdigkeit in der frühesten Phase der menschlichen Embryonalentwicklung vorhanden sind.

Die Haltung zur Stammzellforschung wird durch eine Vielzahl philosophischer, religiöser und gesellschaftlicher Hintergründe beeinflusst. Letztendlich bleibt sie aber für den Einzelnen immer ein persönlicher Abwägungsprozess.

Nur spielen bei mir in diesem Abwägungsprozess auch die Patienten eine wichtige Rolle. Können wir es wirklich rechtfertigen, überzählige befruchtete Eizellen einfach wegzuwerfen, anstatt die Chance zu ergreifen, wenige von Ihnen für die Gewinnung medizinisch hoch relevanter Zelllinien herzustellen? Im Gegensatz zu vielen unserer Nachbarstaaten haben wir in Deutschland diesen Betrachtungswinkel weitgehend ausgeblendet.

Ärzte Zeitung: Was wünschen Sie sich für die Stammzellforschung in den kommenden Jahren? Die Gesetze in Deutschland sind ja nun so, wie sie sind ...

Brüstle: Für die Regulierung der Stammzellforschung wünsche ich mir vor allem Konsequenz und internationale Harmonisierung. Die Stammzellforschung zielt über große Abschnitte auf Anwendung und neue Therapien ab. Sie ist einer der wichtigsten Assets zur Entwicklung wirksamer Therapien für die großen Volkskrankheiten.

Wenn wir dieses Gebiet wollen, müssen klare Regelungen für Forschung und Anwendung geschaffen werden. Diese sollten wir mit anderen Staaten abstimmen. Denn spätestens, wenn solche Therapien breiter verfügbar sind, wird man sie Patienten in Deutschland nicht vorenthalten können.

Für die Forschung an sich wünsche ich mir zeitnah Erfolge in der klinischen Anwendung und bei der Stammzell-basierten Wirkstoffentwicklung. Nur das wird überzeugen.

Ärzte Zeitung: Sie forschen derzeit in Bonn, kommen aber ursprünglich aus Biberach. Sehnen Sie sich nach all den Aufregungen in den vergangenen Jahren nach Biberach zurück?

Brüstle: Ich bin in Biberach aufgewachsen und habe die Stadt in mein Herz geschlossen. Zur-Ruhe-Setzungsambitionen dieser Art habe ich aber noch nicht. Unser Gebiet ist so spannend wie nie, und ich möchte noch viel dazu beitragen.

Das Interview führte Peter Leiner.

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