Reportage

Wo Gewaltopfer das Entkommen lernen

Viele Frauen in Deutschland werden von ihren Männern über Jahre geschlagen, gedemütigt und misshandelt. Die Gewaltopferambulanz Düsseldorf ist eine Anlaufstelle - dort finden Betroffene Hilfe und werden fit gemacht für ein neues Leben.

Von Anja Krüger Veröffentlicht:
Verängstigt, gedemütigt,geschlagen - viele Frauen werden Opfer häuslicherGewalt.

Verängstigt, gedemütigt,geschlagen - viele Frauen werden Opfer häuslicherGewalt.

© bertys 30/fotolia.com

Laura B. fährt mit dem Taxi auf das weitläufige Gelände der Universitätsklinik Düsseldorf. Der Wagen hält vor dem Institut für Rechtsmedizin. Sie muss an der Tür klingeln, um eingelassen zu werden. Schnell öffnet ihr jemand.

Laura B. ist verletzt, ihr Körper ist voller Hämatome. Ihr Mann hat sie geschlagen, nicht zum ersten Mal. Heute hat sie endlich den Mut gefasst, ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen. Ob sie die Kraft haben wird, ihren Mann anzuzeigen, weiß sie noch nicht.

Aber sie kann immerhin dafür sorgen, dass die Verletzungen als Beweis festgehalten werden. Ohne ihren Namen nennen zu müssen.

Anonyme Dokumentation

Die Beraterinnen in der Düsseldorfer Frauenberatungsstelle haben Laura B. von der Möglichkeit erzählt, von den Ärztinnen und Ärzten am rechtsmedizinischen Institut die Folgen der Schläge dokumentieren zu lassen und anonym bleiben zu können.

"Viele Frauen würden gar nicht zu uns kommen, wenn die Beraterinnen sie nicht direkt ins Taxi setzen würden", sagt die Professorin Stefanie Ritz-Timme, Direktorin des Instituts für Rechtsmedizin an der Universität Düsseldorf.

Die Verletzungen müssen fachgerecht dokumentiert werden, damit sie vor Gericht als Beweis gelten. Wichtig ist zum Beispiel, die Verletzungen präzise zu beschreiben und sie mit Maßstab zu fotografieren, damit Richter sich auch Jahre später noch ein Bild von der Verletzung und dem vorangegangenen Übergriff machen können.

In manchen Fällen ist auch eine Spurensicherung oder eine chemisch-toxikologische Untersuchung erforderlich, etwa wenn der Verdacht im Raum steht, dass der Täter K.O.-Tropfen benutzt hat. Die sieben Ärzte und Ärztinnen sind speziell für diese Aufgabe ausgebildet.

Die meisten Klientinnen, die kommen, sind Opfer häuslicher Gewalt. Sie kommen über Beratungsstellen, viele auch von selbst, weil sie etwa von der Möglichkeit der anonymen Dokumentation in der Zeitung gelesen haben, oder sie werden von der Polizei gebracht. "Es kommt auch vor, dass der Hausarzt einer Patientin rät, sich an uns zu wenden", sagt Ritz-Timme.

Die Klientinnen selbst oder die Mitarbeiterinnen von Beratungsstellen vereinbaren telefonisch einen Termin in der rechtsmedizinischen Ambulanz für Gewaltopfer. "Manche stehen aber auch einfach auf der Matte", sagt sie. Auch nachts können Geschädigte Kontakt aufnehmen, dann allerdings über die Zentrale der Universitätsklinik. "Die Mitarbeiter haben die erforderlichen Handy-Nummern", sagt sie.

Frauen aus der Unfallchirurgie

Auch über weitere Einrichtungen der Universitätsklinik finden Frauen den Weg in die Rechtsmedizin, vor allem die unfallchirurgische Ambulanz. Haben die Mediziner dort den Verdacht, dass eine Patientin Opfer von Gewalt geworden ist, bieten sie ihnen eine Untersuchung im Rechtsmedizinischen Institut oder - bei stationären Patientinnen - in der Klinik an. Können Frauen weder deutsch noch englisch, helfen sich die Ärzte auf dem kleinen Dienstweg.

"Dann übersetzen Mitarbeiterinnen aus Frauenberatungsstellen oder wir suchen in der Klinik jemanden, der die Sprache der Geschädigten spricht", sagt Ritz-Timme. Denn die Rechtsmediziner müssen eine Vorstellung bekommen, was geschehen ist. "Ich muss wissen, ob ich zum Beispiel ein Blutentnahme vornehmen muss", sagt sie.

Die Rechtsmedizinerin hat 2005 begonnen, die Gewaltambulanz aufzubauen. Im ersten Jahr kamen 14 Geschädigte. Jetzt sind es mehr als 300, und es werden jährlich mehr. "Ich glaube nicht unbedingt, dass die Gewalt zunimmt", sagt sie. "Wir erreichen das Dunkelfeld immer besser." Häusliche Gewalt ist kein Schichtenproblem, sie kommt in allen gesellschaftlichen Kreisen, betont die Rechtsmedizinerin.

Misshandelt zu werden, ist eine extreme Erfahrung der Fremdbestimmung. Das soll sich bei der Untersuchung und Dokumentation auf keinen Fall fortsetzen. Im Institut für Rechtsmedizin bestimmt die Geschädigte, was geschieht. "Sie ist die Herrin des Verfahrens", betont Ritz-Timme. 30 bis 40 Prozent der Frauen, die ihre Verletzungen dokumentieren lassen, entscheiden sich später für eine Anzeige des Täters.

"Frauen, die misshandelt werden, stehen unter Schock", erklärt die Rechtsmedizinerin. In diesem Zustand die Entscheidung für eine Anzeige bei der Polizei zu stellen, ist für viele nicht möglich. Den eigenen Partner anzuzeigen, ist ein enormer Schritt. Frauen brauchen dafür Zeit - die sie nicht haben, wenn sie später nicht beweisen können, was geschehen ist.

Häusliche Gewalt ist ein Prozess. Sie baut sich auf, oft in Krisensituationen unter Einfluss von Alkohol und Stress. Scheinbar tut es Männern furchtbar leid, wenn sie ihre Partnerin geschlagen haben. Die Opfer verzeihen ihnen - bis die Männer wieder zuschlagen. Scham und Angst verhindern, dass die Frauen sich jemanden anvertrauen und die Schläger verlassen.

Oft verstecken sie ihre Verletzungen oder leugnen, dass sie Folge von Misshandlungen sind. Sie hoffen nach jeder Attacke, dass die Männer sich ändern - die oft tränenreich und äußerst niedergeschlagen versprechen, nie wieder die Hand gegen ihre Partnerin zu erheben. Allzu oft glauben Frauen das, bis bei der nächsten Krise der Kreislauf von vorne losgeht, und Scham und Angst wieder verhindern, dass sie gehen.

Therapie ist die extreme Ausnahme

Die Gewaltambulanz in Düsseldorf.

Die Gewaltambulanz in Düsseldorf.

© Krüger

"Die Schwelle, gewalttätig zu werden, wird für den Partner immer niedriger", berichtet Ritz-Timme. "Auch die Schwere der Gewalt nimmt mit der Zeit zu." Es gibt auch Fälle, die nicht mit der Zeit eskalieren, etwa wenn der Täter eine Therapie macht. Doch das machen die wenigsten.

"Ärzte können die Gewaltspirale durchbrechen", sagt Ritz-Timme. Der Arzt ist für Opfer von Gewalt oft der erste Gesprächspartner. "Geschädigte sprechen eher mit dem Arzt darüber als mit der besten Freundin", sagt sie.

Er kann Hilfsangebote machen. Um Zugang zu misshandelten Patientinnen zu finden, kann es sinnvoll sein zu erklären, dass viele andere Menschen auch Gewalt erleiden. Die Dunkelziffer ist hoch. Schätzungen gehen davon aus, dass jede vierte Frau Gewalterfahrungen hat. "Zu wissen, dass auch andere Gewalt erleben, nimmt Scham und Angst", sagt sie.

Wer ins Institut möchte, muss klingeln. Stehen Frauen mit blauen Flecken im Gesicht oder anderen Verletzungen vor der Tür, wissen die Assistentinnen von Ritz-Timme, was zu tun ist. Im Institut ist jeder geschult. Rechts neben dem Eingang befindet sich ein Wartezimmer mit Spielzeug für Kinder und vielen Broschüren mit Hilfsangeboten.

In Düsseldorf arbeitet ein gut funktionierendes Netzwerk aus Beratungsstellen, Ärzten und Kliniken zusammen, das Frauen den Ausstieg aus dem schrecklichen Kreislauf häuslicher Gewalt ermöglichen will. "Wir sind Teil dieses Netzwerks", sagt Ritz-Timme.

Manche Misshandlungsopfer werden regelmäßig in der Gewaltopferambulanz vorstellig. "Es gibt Frauen, die kommen immer wieder", sagt die Rechtsmedizinerin. "Sie schaffen den Absprung nicht. Das muss ich als Ärztin respektieren."

Frauen sind eher zum Absprung bereit, wenn sie von den Ärzten erfahren, wie schlimm das Geschehen für ihre Kinder ist - auch wenn der Partner sich nicht an Sohn oder Tochter vergreift.

"Für die Kinder ist das Zuschauen, wenn ihre Mutter geschlagen wird, im Prinzip fast so schlimm wie eine Kindesmisshandlung", sagt sie. Nach ihren Erfahrungen überzeugt Frauen genau diese Tatsache am ehesten, sich von ihrem gewalttätigen Partner zu lösen.

Auch Männer werden misshandelt

Nicht nur Frauen werden zu Hause geprügelt. Auch Männer werden von ihren Partnerinnen misshandelt. "Das ist ein ungeheures Tabuthema", sagt Ritz-Timme. Für Frauen ist es schon extrem schwer, zu offenbaren, dass sie misshandelt werden.

Für Männer ist es noch schwerer - denn es widerspricht dem vorherrschenden Rollenbild so extrem, dass die Geschädigten in doppelter Hinsicht unter Scham und Angst leiden.

"Ich bin überzeugt davon, dass auch sehr viele Männer Opfer häuslicher Gewalt werden", sagt Ritz-Timme. In die Düsseldorfer Gewaltopferambulanz sind bislang nur wenige Männer gekommen, um ihre Verletzungen dokumentieren zu lassen.

Für sie gibt es keine speziellen Beratungsstellen. "Die Hilfesysteme sind auf Frauen ausgerichtet", sagt die Rechtsmedizinerin.

"Wir gehen von hoher Dunkelziffer aus"

Professor Heidi Pfeiffer, Direktorin des Rechtsmedizinischen Instituts der Uni Münster.

Professor Heidi Pfeiffer, Direktorin des Rechtsmedizinischen Instituts der Uni Münster.

© UKM

Professor Heidi Pfeiffer ist Direktorin des Rechtsmedizinischen Instituts der Universität Münster. Die 53-Jährige hat vor fünf Jahren die Gewaltopferambulanz an ihrem Institut ins Leben gerufen.

Ärzte Zeitung: Frau Professor Pfeiffer, Krimi-Autoren wie der Erfinder des ZDF-Detektivs "Wilsberg" Jürgen Kehrer haben eine Patenschaft für die Gewaltambulanz am Rechtsmedizinischen Institut der Universität Münster übernommen. Ist es nicht eine Verharmlosung von realer Gewalt, wenn die Beschreibung fiktiver Verbrechen zu Unterhaltungszwecken zur Spendenakquise genutzt wird?

Professor Heidi Pfeiffer: Das sehe ich nicht so. Ohne die Benefizveranstaltungen der Autoren würden die Leistungen des rechtsmedizinischen Instituts überhaupt nicht gegenfinanziert. Als wir die Gewaltambulanz vor fünf Jahren eingerichtet haben, habe ich bei einer Vorstellung des Projekts von der fehlenden Finanzierung unserer Arbeit berichtet. Danach sind die Autoren auf uns zugekommen und haben ihre Hilfe angeboten.

Durch das Geld, das bei ihren Benefizveranstaltungen auf unser Spendenkonto fließt, können wir Opfern von Gewalt die kostenlose Dokumentation ihrer Verletzungen und die Archivierung der Befunde anbieten. Zurzeit bezuschusst das Universitätsklinikum die Untersuchung und Archivierung der Befunde.

In anderen Bundesländern übernehmen die Länder zumindest einen Teil der Kosten, in Rheinland-Pfalz zum Beispiel das Innenministerium. Wie ist das in Nordrhein-Westfalen?

Pfeiffer: In NRW beteiligt sich das Land noch nicht an der Finanzierung der Gewaltambulanz. Es besteht Handlungsbedarf seitens der Landesregierung.

Für wen ist die Gewaltambulanz gedacht?

Pfeiffer: Unser Angebot richtet sich an Opfer von Gewalt, die ihre Verletzungen außerhalb eines Strafverfahrens dokumentieren möchten. Wir bewahren die Befunde unbegrenzt auf. Rechtsanwälte und Gerichte können sie abrufen, wenn sich das Opfer zu einer Strafanzeige entschließt. Die meisten Frauen, die zu uns kommen, sind Opfer häuslicher Gewalt.

Im Jahr besuchen zwischen 15 und 20 Betroffene die Ambulanz, wobei Frauen, die Opfer einer Sexualstraftat wurden, nicht von uns, sondern in der Frauenklinik untersucht werden. 2011 waren zwölf Frauen und drei Männer in der Gewaltambulanz, die meisten waren zwischen 30 und 40 Jahre alt. Die Jüngste war 18 Jahre, die Älteste 65 Jahre. Auch wenn die Fallzahlen gering erscheinen: Wir gehen von einer hohen Dunkelziffer aus.

Steigt die Zahl der Gewaltopfer?

Pfeiffer: Wir wissen nicht, ob die Zahl der Gewaltopfer in den vergangenen Jahren gestiegen ist. Was aber auch jeden Fall gestiegen ist, ist das Problembewusstsein. Wir brauchen eine bundesweite Organisation der schätzungsweise 20 Gewaltambulanzen, die es in Deutschland gibt, und eine gute Gegenfinanzierung. Dann könnten wir unser Angebot großflächig bekannt machen. Noch wissen viele Opfer von Gewalt nichts von der Möglichkeit, ihre Verletzungen vertraulich für eine mögliche spätere Strafanzeige dokumentieren zu lassen.

Welche Verletzungen haben die Betroffenen?

Pfeiffer: Typische Verletzungen sind Blutergüsse im Gesicht und an Armen, die zum Beispiel durch stumpfe Gewalt mit Schlägen oder durch Fixiergriffe entstanden sind. Die Frauen sind in der Regel Opfer häuslicher Gewalt, sie leben in einer Partnerschaft und werden von ihrem Partner geschlagen, oft schon seit Jahren. Viele brauchen lange, bis sie zu uns finden. Die Hemmschwelle, zu uns zu kommen, ist für sie sehr hoch. Männer, die zu uns kommen, sind oft Opfer einer Schlägerei, häufig spielt Alkohol dabei eine große Rolle.

Wenden sich an Sie auch niedergelassene Ärzte, zu denen Patientinnen und Patienten nach einem gewalttätigen Übergriff kommen?

Pfeiffer: Wir bekommen viele Anrufe von Ärzten und beraten sie. Opfer von Gewalt wenden sich häufig zuerst an den Hausarzt. Ihn kennen sie, ihm vertrauen sie, ihm öffnen sie sich. Bei vielen Ärzten ist immer noch die Auffassung verbreitet, dass sie selbst Befunde nicht gerichtsfest dokumentieren können. Das ist falsch. Sie müssen aber einiges beachten, zum Beispiel die Art und Form der Verletzungen genau beschreiben und Fotos von ihnen machen, bei denen ein angelegter Maßstab die Größe der Verletzung dokumentiert.

Wir bieten auch Schulungen für Gynäkologen an. Frauen wenden sich nach einer Vergewaltigung häufig an ihren Frauenarzt. Auch Gynäkologen können die Befunde gerichtsfest dokumentieren, müssen aber erst recht einiges beachten. Das Material für den Abstrich für eine bakteriologische Untersuchung zum Beispiel darf nicht für die Sicherung von Spuren verwendet werden, weil damit die DNS zerstört wird.

Das Interview führte Anja Krüger

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