Katastrophenmedizin

Was Japan aus dem Sarin-Anschlag gelernt hat

Heute vor exakt 20 Jahren hat ein Giftgas-Anschlag mit Sarin in der Tokioter U-Bahn Japan erschüttert. Ärzte in 100 medizinischen Einrichtungen sahen sich plötzlich Dutzenden von Patienten gegenüber, deren Symptome sie nicht deuten konnten. Der entscheidende Behandlungstipp kam schließlich per Fax.

Von Sonja Blaschke Veröffentlicht:
6. März 2015: Spezialkräfte trainieren an der Tokioter U-Bahnstation Tsukiji einen Katastropheneinsatz für den Fall eines Giftgasanschlages.

6. März 2015: Spezialkräfte trainieren an der Tokioter U-Bahnstation Tsukiji einen Katastropheneinsatz für den Fall eines Giftgasanschlages.

© Sonja Blaschke

TOKIO. 20. März 1995, kurz nach 8 Uhr morgens in der Tokioter U-Bahn: Mitglieder der japanischen Endzeitsekte AUM Shinrikyo zerstechen in fünf Zügen auf drei Linien mit geschärften Schirmspitzen Plastikbeutel mit der hochgiftigen, farb- und geruchlosen Substanz Sarin.

Durch die teils dilettantische Ausführung des Attentats fällt die Bilanz mit 13 Toten, 50 schwer sowie zwischen 1000 und 6000 leicht verletzten Fahrgästen verhältnismäßig glimpfllich aus.

Denn an diesem Tag waren außer den Berufspendlern noch Tausende Studenten teils mit Eltern auf dem Weg zu ihrer Studienabschlussfeier an einer von Dutzenden Hochschulen in der japanischen Hauptstadt.

Sofort nach dem Anschlag spricht man weltweit von einer neuen Qualität des Terrors.

Motive bis heute nicht geklärt

Feuerwehrmänner mit Gasmasken und Schutzanzügen kommen am 21. März 1995 nach der Dekontaminierung aus der Tokioter U-Bahn.

Feuerwehrmänner mit Gasmasken und Schutzanzügen kommen am 21. März 1995 nach der Dekontaminierung aus der Tokioter U-Bahn.

© Atsushi Tsukada/picture alliance/associated Press

Weder die Motive der pseudoreligiösen, terroristischen Gruppe noch die Schuldfrage ist bis heute eindeutig geklärt.

13 Beteiligte sitzen in der Todeszelle, darunter Sektenführer Shoko Asahara, der mit bürgerlichem Namen Chizuo Matsumoto heißt. Ende April wird das Urteil für einen der Fluchthelfer erwartet, der sich 17 Jahre lang vor der Polizei versteckte.

Das Jahr 1995 war ein Weckruf für den japanischen Katastrophenschutz: Denn erst am 17. Januar erschütterte ein starkes Erdbeben die Region um die Hafenstadt Kobe und forderte knapp 6500 Tote sowie rund 44.000 Verletzte.

Nach diesen beiden Zäsuren machte sich Nippon daran, seine Rettungsdienste stetig zu verbessern und es gibt immer wieder Katastrophenschutzübungen.

So auch vor Kurzem in Tokio: Feuerwehrleute in gelben Schutzanzügen führen zwei Büroangestellte auf einen Parkplatz an der U-Bahn-Station des berühmten Tokioter Fischmarkts Tsukiji.

Diese reiben sich die Augen, ihr Gesicht ist schmerzverzerrt. Sie erhalten Beutel mit Einwegkleidung, die sie in einem kleinen Notfallzelt anziehen sollen.

Polizisten in silbernen Schutzanzügen tragen weitere Opfer herbei, während Spezialeinsatzdienste große Zelte und Sonderfahrzeuge zur Dekontaminierung vorbereiten.

Danach untersuchen Feuerwehrleute die Opfer an einer Sammelstelle vor, notieren ihren Zustand auf einer Triage-Karte und transportieren sie weiter zu Ärzten und Sanitätern in einem Sanitätszelt sowie einer "Superambulanz", einer fahrbaren Mini-Klinik.

Das Spektakel ist Teil einer jährlichen Übung einer Spezialeinheit der Polizei für die Bekämpfung von Atom-, Bio- und Chemie-Waffen (ABC).

155 Vertreter verschiedener Einheiten der Tokioter Feuerwehr, der Polizei sowie ein Disaster Medical Assistance Team (DMAT) mit medizinischem Personal vom St. Luke‘s International Hospital mussten die Rettung von 28 Personen simulieren.

Kliniken rätselten über Symptome

Sie versuchten sich vorzustellen, in welcher Lage ihre Kollegen vor 20 Jahren am gleichen Ort waren - allerdings ohne vergleichbare Ressourcen.

Denn es gab weder eine übergreifende Notfallzentrale, die mit simultanen Anschlägen an mehreren Orten umgehen kann, noch tragbare Geräte zur schnellen Analyse der freigesetzten Substanzen oder gar ein Triage-System, um Verletzte nach der Dringlichkeit ihrer Behandlung einzuteilen.

Rückblende: In den unmittelbaren Stunden nach dem Anschlag sahen sich über 100 medizinische Einrichtungen in Tokio plötzlich Dutzenden von Patienten gegenüber, deren Symptome sie mehrere Stunden nicht deuten konnten.

Weder das staatliche Gesundheitsamt noch die Notrufzentrale der Feuerwehr, die ständig belegt war, informierten die Krankenhäuser darüber, was genau passiert war.

Diesen blieb nichts anderes übrig, als auf das Fernsehen und eigene Recherche in medizinischer Fachliteratur zurückzugreifen.

"Behandeln Sie mit Atropin und PAM"

Stichwort: Sarin

Sarin ist nach Angaben der Centers for Disease Control and Prevention (CDC) synthetisch hergestellter, als Nervengift eingestufter Chemiekampfstoff. Er wurde 1938 von deutschen Forschern ursprünglich als Insektizid erfunden.

In Wirkungsweise und seinen gesundheitsschädlichen Effekten ähnelt Sarin laut CDC den als Insektizide gebrauchten Organophosphaten.

Eigenschaften: Sarin ist eine klare, farb- und geschmacklose Flüssigkeit, die in reiner Form auch geruchlos ist. Sarin kann zu einem Gas verdunsten und sich in der Umgebung ausbreiten, wie dies bei dem Anschlag auf die Tokioter U-Bahn am 20. März 1995 der Fall war. (maw)

Das CDC-Merkblatt zu Sarin im Web: http://goo.gl/D8jIPo

Viele Kliniken bekamen den entscheidenden Hinweis erst via Fax von Dr. Nobuo Yanagisawa, zweieinhalb Stunden nach dem Attentat.

Der damals 60-jährige Leiter der medizinischen Fakultät an der Shinshu-Universität der Präfektur Nagano begann nach Fernsehberichten zu dem Terrorakt mit seinen Mitarbeitern ein Dossier zu Sarin an rund 30 Krankenhäuser in Tokio zu faxen.

"Behandeln Sie mit Atropin und PAM", stand darin. PAM, die Kurzform für Obidoximchlorid, ist ein Antidot bei Vergiftung mit organischen Phosphorverbindungen wie Sarin.

Yanagisawa hatte die Kenntnisse, weil die gleiche Sekte im Juni 1994 einen Saringas-Anschlag in einem Wohngebiet der Stadt Matsumoto in der Präfektur Nagano verübt hatte - ohne dass die Regierung in Tokio dem größere Bedeutung beigemessen hätte.

Etwa 600 Anwohner und Rettungskräfte waren damals vergiftet, 58 in Kliniken eingewiesen worden, sieben gestorben.

Noch heute leidet weit über die Hälfte der Opfer des Tokioter Sarinanschlags an den Nachwirkungen, wie Sehstörungen, Erschöpfung, Schwindel, Kopfschmerzen und dem posttraumatischen Belastungssyndrom.

Einer der führenden japanischen Notfallmediziner, Dr. Shinichi Ishimatsu (siehe Interview) vom St. Luke‘s International Hospital, sagt, dass auch heute niemand den Überblick habe, wie viele Patienten welche Probleme hätten, weil es keine übergreifende Datenbank gebe. Er fordert eine bessere Aufklärung der Öffentlichkeit sowie Untersuchungen zu den Langzeitfolgen. Das könne nur die Regierung leisten, so Ishimatsu.

Bürokratie statt Leitlinien

Die Episode Yanagisawa offenbarte den nationalen Krisenmanagern in Tokio vor 20 Jahren, dass Japan keineswegs adäquat auf Katastrophen und erst recht nicht auf Terroranschläge mit Giftgas vorbereitet war.

Der Apparat musste handeln. Es gab zum Beispiel kaum Handbücher oder Leitlinien, dafür umso mehr Bürokratie, unklare Zuständigkeiten sowie Protektionismus, der die Kommunikation zwischen den Einrichtungen verhinderte.

"Auch wenn einzelne Rettungsdienste sehr effizient reagierten, klappte doch die Interaktion nicht", sagte Yanagisawa in einem Interview mit dem japanischen Autor Haruki Murakami.

Dieser hatte zwei Jahre nach den Anschlägen Interviews mit Betroffenen und früheren Anhängern Asaharas geführt und in seinem Buch "Untergrundkrieg" veröffentlicht.

Zurück zur Gegenwart: Nach der einstündigen Übung in Tsukiji sagte Koki Sato, ein leitender Vertreter der Feuerwehr Kyobashi, vor Fernsehkameras, man sei heute viel besser vorbereitet als vor 20 Jahren.

Später räumt er im Interview mit der "Ärzte Zeitung" aber ein, dass die normale Feuerwehr hauptsächlich auf Brände und Unfälle beim Verkehr und in Fabriken ausgerichtet sei, die meist nur eine überschaubare Zahl an Opfern fordern. "Wir wissen zu wenig Bescheid und brauchen mehr Experten, zum Beispiel um verdächtige Substanzen zu bestimmen", so Sato.

Die Feuerwehr könne Terrorattentate nicht alleine bewältigen und sei auf die Hilfe von ABC-Einheiten sowie die japanischen Selbstverteidigungskräfte angewiesen.

Olympia im Blick

Unerwartet wurde bei der Übung eine weitere Lücke im japanischen Katastrophenschutz klar: Fremdsprachenkenntnisse. Plötzlich tauchten ausländische Touristen in der "Superambulanz" auf.

Erst dort, ein ganzes Stück hinter der Absperrung, wurden sie mit holprigem Englisch angesprochen. Zwar gebe es in Vierteln mit vielen Touristen wie Ginza und Asakusa bei der örtlichen Feuerwehr Personal mit Fremdsprachenkenntnissen, so Sato. Er regt aber an, dies auch in Katastrophenübungen zu berücksichtigen.

Es steht viel auf dem Spiel: 2020 wird Tokio die Olympischen Spiele ausrichten.

Eine Dokumentation des Sarin-Anschlages dreht derzeit der Filmemacher Atsushi Sakahara, der am 20. März 1995 selbst in der U-Bahn unterwegs war, als der Anschlag geschah. Der Film "Ichimai no Shashin" soll 2016 in die Kinos kommen.

Lesen Sie dazu auch: Ein Arzt berichtet: Großes Rätselraten nach Sarin-Anschlag 1995

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