Neuanfang 1990

"Wer als Arzt etwas bewegen wollte, hatte alle Chancen"

Wiedervereinigung konkret: Die Kinderärztin Dr. Birgit Erxleben will nach der Wende zusammen mit 17 Kollegen ein Ärztehaus gründen. Die Deutsche Apotheker- und Ärztebank projektiert und finanziert das Vorhaben. Die Beteiligten berichten der "Ärzte Zeitung" über die abenteuerlichen Umstände der Übergangszeit.

Angela MisslbeckVon Angela Misslbeck Veröffentlicht:
Die erste Mannschaft in der apoBank-Filiale Potsdam: Viel wurde damals improvisiert.

Die erste Mannschaft in der apoBank-Filiale Potsdam: Viel wurde damals improvisiert.

© privat

POTSDAM. Drei Zimmer, Küche, Bad und Kanonenofen - das war das Ambiente, in dem Jürgen Nitsche, Ute Müller und Dr. Birgit Erxleben 1991 regelmäßig zusammentrafen: Die erste Filiale der apoBank in Potsdam.

Die Kinderärztin Erxleben hatte einen stattlichen Altbau ausfindig gemacht, den sie zusammen mit 17 weiteren Kollegen verschiedener Fachrichtungen zu einem Ärztehaus umgestalten wollte. "Gewerberäume gab es damals nicht", berichtet sie.

Also spuckten die Ärzte in die Hände und schufen sich ihre Räume selbst. "Wir sind stolz, dass wir das geschafft haben, aber wir hatten auch tolle Hilfe", so Erxleben.

"Wir wussten ja nichts"

25 Jahre Deutsche Einheit

Die "Ärzte Zeitung" blickt in einem Dossier auf "25 Jahre Deutsche Einheit": Hier geht es zur Artikel-Übersicht.

Wenn die Ärztin von Hilfe spricht, meint sie vor allem Jürgen Nitsche. Er war im Mai 1991 mit 31 Jahren als jüngster Filialleiter einer apoBank aus Berlin nach Potsdam gekommen. Erxleben berichtet:

"Wir Ärzte hatten eine Idee und eine Immobilie, aber überhaupt keine Ahnung, wie das funktioniert und ob das funktioniert. Das Haus war eine Ruine. Wir brauchten jemanden, der uns sagt, ob man das retten kann oder abreißen muss. Wir wussten ja nichts. Da hat Herr Nitsche uns sehr an die Hand genommen."

Passt Nitsche also voll in das Klischee vom "Besserwessi"? "Tatsächlich war die erste Frage immer, woher ich komme. Und wenn die Leute dann wussten, dass ich aus dem Westen bin, fragten sie, wie lange ich bleibe", berichtet der heute 56-Jährige, der 1991 ein Haus in Potsdam kaufte, das er heute noch mit Frau und drei Kindern bewohnt.

Auch Erxleben ist bei weitem kein "Jammerossi". Im Gegenteil: Nitsche war beeindruckt von dem Pioniergeist der Kinderärztin und ihrer Kollegen.

"Sie waren bereit, ohne Not einen sechsstelligen Kredit aufzunehmen, um als niedergelassene Ärzte zu arbeiten", sagt er. Der Banker holte einen Steuerberater und einen Juristen zur Planung ins Boot. "Dann ging die Arbeit los", sagt Nitsche.

Die Projektierung des Ärztehauses war seine erste Handlung als Filialleiter in Potsdam. Dazu gehörten auch die Verhandlungen mit der Stadt und die Bauanträge. "Die waren damals noch viel einfacher als heute", sagt er.

Doch sämtliche Formulare und auch die Kreditverträge mussten per Hand an der manuellen Schreibmaschine geschrieben werden, berichtet Ute Müller, eine der ersten Mitarbeiterinnen der Potsdamer Bankfiliale.

"Wenn man sich verschrieben hat, musste man alles neu schreiben." "Ein Anruf in der Zentrale war regelrecht Arbeit", so Müller weiter.

Nur selten gelang es, eine Verbindung aufzubauen. Das Telefon mit Wählscheibe bediente sie deshalb nach einiger Zeit nur noch mit dem Stift, weil die Finger vom vielen Wählen schon wund waren.

Finger buchstäblich wund gewählt

Der Bau des Ärztehauses ging voran. Doch immer wieder gab es Rückschläge. "Der Zustand der Immobilie war schlimmer als erwartet", sagt Nitsche. Mehr als zwei Nachfinanzierungen waren nötig. Nitsche hat die Ärzte zum Durchhalten motiviert.

Erxleben erinnert sich: "Herr Nitsche hat immer gesagt: Das schaffen Sie. Es war aber auch eine tolle Truppe sehr engagierter Kollegen." Natürlich hätten die Ärzte Angst gehabt, ob alles gut geht. "Wir wussten ja nicht, ob wir das alles erarbeiten können", sagt Erxleben.

Die Vorstellungen der Ärzte, was entstehen sollte, seien sehr klar gewesen, berichtet Nitsche. Jeder wollte ein Stück Unabhängigkeit. Daher wurde das Haus geteilt, so dass jeder der Ärzte Eigentümer seiner eigenen Praxis war. Nitsche zeigt sich beeindruckt von der Solidarität der Ärzte. "Keiner hat mit seinen Erfahrungen hinter den Berg gehalten aus Angst vor Konkurrenz."

Die Bank war bei Krediten damals "äußerst kulant", wie Nitsche sagt. Übliche Sicherheiten spielten eine untergeordnete Rolle. Das war der Notwendigkeit geschuldet, denn kaum einer hätte sie erbringen können. Entschieden wurde vor allem nach Finanzierungsvorhaben und Personen.

"Ausschlaggebend war für uns, dass es eine Gruppe von gestandenen Ärzten war, die sich gegenseitig geholfen haben", sagt Nitsche. Noch heute bewundert er den Mut der Beteiligten und die Energie, die alle investierten.

Unbürokratisch war auch die Kreditauszahlung. Weil die Bank in der ersten Hälfte der 90er Jahre regelrecht überrannt wurde von Ärzten und Apothekern mit Kreditanträgen, wurden Darlehen, wenn es eilig war, auch schon mal ausbezahlt, ohne dass der handgeschriebene Kreditvertrag fertig war. Viel musste improvisiert werden. Nitsche: "Wer etwas bewegen wollte, hatte alle Chancen."

Dr. Erxleben: "Als wir die Immobilie gefunden hatten, wurde es aufregend"

Dr. Birgit Erxleben, 65, Kinderärztin.

Dr. Birgit Erxleben, 65, Kinderärztin.

© Angela Mißlbeck

"Nach Jahren in der Klinik wollte ich einfach noch einmal etwas Anderes machen. Mit der Wiedervereinigung 1990 sah ich dafür die Zeit gekommen. Gemeinsam mit weiteren Ärzten wuchs die Idee, ein Ärztehaus zu gründen. Als wir die geeignete Immobilie an der Kurfürstenstraße gefunden hatten, wurde es aufregend.

Wir waren zur Beratung auch bei der Kassenärztlichen Vereinigung und haben uns Praxen in Berlin angesehen. Kurse und Infoveranstaltungen haben wir praktisch aufgesaugt. Denn es gab eine Menge zu lernen über das neue System.

Ich habe mich mit einer niedergelassenen Kollegin zu einer Gemeinschaftspraxis zusammengeschlossen. Wenn man sich gut versteht, ist das ideal. Wir hatten beide kleine Kinder und waren berufstätig. Also haben wir die Praxisplanung nach Feierabend gemacht. Einmal sind wir nachts um 10 Uhr zur Raststätte Michendorf gefahren, um uns dort Stühle für das Wartezimmer anzusehen. Diese Stühle stehen bis heute. Übrigens sind auch noch zwei unserer ersten Mitarbeiterinnen bis heute dabei.

Am 1. Juli 1992 hat unsere Praxis als erste im Ärztehaus eröffnet. Danach hat jeden Monat eine weitere Praxis im Haus eröffnet. Das Ärztehaus wurde ein unglaublicher Erfolg. Wir Kollegen kannten uns. Es war selbstverständlich, dass wir uns gegenseitig unterstützt und uns ausgetauscht haben. Die Solidarität unter Kollegen war damals noch sehr ausgeprägt."

Nitsche: "Man musste nur so eine Art Gründer-Gen haben"

Jürgen Nitsche, 56, Gründungsfilialleiter der apoBank in Potsdam.

Jürgen Nitsche, 56, Gründungsfilialleiter der apoBank in Potsdam.

© Angela Mißlbeck

"Ab Dezember 1989 wurden wir in der Filiale in Berlin, wo ich Kundenberater war, von Ärzten und Apothekern regelrecht überrannt. Unser Vorstand war überzeugt, dass die neuen Bundesländer sich ähnlich entwickeln werden wie die alten. Er suchte nach jungen, flexiblen Mitarbeitern mit Potenzial, um in den neuen Filialen Kontinuität zu schaffen.

Als ich im Mai 1991 in die Potsdamer Dreiraumwohnung kam, die bis dahin als Filiale der apoBank gedient hatte, habe ich mir gesagt: Hier willst du nicht arbeiten. Jede Woche musste dort der Tresorbauer kommen und den Tresor neu ausrichten, weil der Boden sich abgesenkt hat. Also habe ich nach einer Alternative gesucht. Fast jeden Tag bin ich nach Feierabend in der Stadt umhergefahren und habe nach leer stehenden Gebäuden Ausschau gehalten.

Im September haben wir schließlich eine freistehende Villa mit 300 Quadratmetern gemietet. Bis zum Dezember war sie renoviert und wir sind umgezogen in wahrhaft fürstliche Räume. So schön war damals kaum eine andere Filiale in den neuen Bundesländern. Zur Eröffnung kam der damalige Brandenburgische Ministerpräsident Manfred Stolpe. Alles war unkompliziert.

Man musste nur so eine Art Gründer-Gen haben und bereit sein, die Initiative zu ergreifen. Das taten Frau Dr. Erxleben und ihre Kollegen. Sie haben sich gesagt: Wir machen es anders. Und das gilt bis heute: Diejenigen, die bereit sind, ihre Träume zu verwirklichen, sind in der Niederlassung gut aufgehoben."

Müller: "Die Kunden kamen und fragten: Gibt es hier auch Geld?"

Ute Müller, seit 25 Jahren Mitarbeiterin der apoBank Potsdam.

Ute Müller, seit 25 Jahren Mitarbeiterin der apoBank Potsdam.

© Angela Mißlbeck

"Ich habe seit 25 Jahren den gleichen Chef. Das können heute nicht viele von sich sagen. Auch manche der Kunden kenne ich schon seit 25 Jahren, wie zum Beispiel Frau Dr. Erxleben. Wir erkennen uns am Telefon schon an der Stimme.

Über meine Familie hatte ich von der Neugründung der Potsdamer apoBank-Filiale gehört. Ich hatte schon immer einen engen Bezug zur Medizin, hätte das am liebsten selbst studiert, aber als Lehrerkind habe ich trotz Abinote 1,0 keinen Platz bekommen und hätte warten müssen. Ich hatte dann eine sehr schöne Position in einer Raiffeisenbank, wollte mich aber beruflich verändern. Bevor ich meine Stelle bei der apoBank antreten konnte, musste ich mehrfach telefonisch nachfragen, wann es losgeht.

Zum Anrufen bin ich immer mit meinen zwei kleinen Kindern von Teltow nach Westberlin zur Telefonzelle gelaufen. Im Osten gab es ja kaum Telefone. Die Filialeröffnung verschob sich immer wieder. Die Kinder fragten irgendwann schon, wie oft sie noch zu der Telefonzelle laufen müssen.

Als ich am ersten Arbeitstag in die Filiale in der Dreiraumwohnung kam, mussten zunächst noch Möbel für mich besorgt werden, und der schriftliche Arbeitsvertrag kam erst Monate später. Der Betrieb in der Bank lief langsam an. In den ersten Tagen fragten die Kunden, ob es hier auch Geld gebe."

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