Ärzte auf Achse

"Die einzige Regel im Notdienst ist: Es gibt keine"

Unterwegs mit dem fahrenden Notdienst der KV Hamburg: Von einfachen Rezepten bis zu akuten COPD-Fällen. Für Dr. Stanislaw Nawka gibt es nur eine Regel: Es gibt keinen Alltag.

Dirk SchnackVon Dirk Schnack Veröffentlicht:
Im Einsatz mit der leuchtend roten Jacke: Dr. Stanislaw Nawka vom Hamburger Notdienst.

Im Einsatz mit der leuchtend roten Jacke: Dr. Stanislaw Nawka vom Hamburger Notdienst.

© Dirk Schnack

Eine Stunde lag zwischen dem letzten Patienten in seiner Praxis und dem Start in den Notdienst. Dr. Stanislaw Nawka wirkt trotzdem frisch - als ob er sich auf die weiteren fünf Stunden Arbeit, die noch vor ihm liegen, freut. Der Eindruck täuscht nicht. Wie sonst sollte der Hamburger Hausarzt neben seiner Praxis rund 100 Abend- und Nachtdienste im Jahr bewältigen?

"Ich bin einer, der wenig Schlaf braucht. Außerdem macht es viel Spaß, nichts ist abwechslungsreicher", sagt Nawka mit einem Lächeln. Er zieht seine rote Jacke über und schnappt sich seinen Arztkoffer, als er den Wagen des fahrenden Notdienstes auf seine Auffahrt einbiegen sieht.

Am Steuer sitzt Rettungssanitäterin Nicole Graf, die ihn im Auftrag des privaten Unternehmens G.A.R.D durch die Nacht begleiten wird.

13 Teams im Einsatz

G.A.R.D ist als Dienstleister der KV Hamburg im fahrenden Notdienst eingesetzt. Diesen hält die KV vor, damit Patienten auch nach den Sprechstunden noch ambulante ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen können und nicht in die Klinikambulanzen fahren müssen. Zeitgleich mit Graf und Nawka treten zu diesem Zeitpunkt zwölf weitere Teams in verschiedenen Hamburger Bezirken ihre Dienste an.

Diesen Service bietet die KV den Patienten in der Hansestadt jeden Tag nach Praxisschluss, bis zum nächsten Morgen um 8 Uhr.

Gearbeitet wird in zwei Schichten. Ihre Einsätze bekommen die Teams aus der Notdienstzentrale auf ein Display im Auto geschickt, auf dem die Aufträge nach Dringlichkeit abgestuft sind. "Normal", "baldig" und "dringlich" gibt es.

Den einzigen "baldigen" Auftrag zum Dienstbeginn erledigen Graf und Nawka sofort: eine COPD-Patientin, die das Gefühl hat, schlechter als sonst Luft zu bekommen. Dies ist die einzige Information für das Team, das nach wenigen Minuten die Wohnung der Patientin erreicht. Die alleinstehende Frau klagt über viele Beschwerden, muss gründlich untersucht werden.

Währenddessen liest Graf die Versicherungskarte über ein mobiles Lesegerät ein und erledigt die formalen Anforderungen. Als die Untersuchung beendet ist, hat Graf schon alle Formalitäten erledigt. Rund fünfzehn Minuten haben sie für die Patientin gebraucht, dann sind sie auf dem Weg zum nächsten Einsatz.

 "Toll, dass es so etwas gibt"

Die Zentrale hat inzwischen weitere Patienten auf dem Display aufgelistet. Die nächste Patientin braucht lediglich ein neues Rezept. Die alte Dame bemüht den fahrenden Notdienst, weil ihr Arzt in Urlaub und sie schlecht zu Fuß ist. "Toll, dass es so etwas gibt", lobt sie das Konzept.

Eine Diskussion darüber, ob für solche Fälle der fahrende Notdienst eingeschaltet werden sollte, erspart sich Nawka. Er verordnet und ist nach wenigen Minuten wieder auf der Straße.

Die nächste Patientin leidet seit Wochen unter Appetitlosigkeit und Magenproblemen, hat Angst vor Krebs und will eine Magenspiegelung. Nawka rät ihr zur Abklärung bei ihrem Hausarzt.

Ob solche Fälle die Regel sind? "Die einzige Regel im Notdienst ist: Es gibt keine", sagt Nawka, der seit 25 Jahren solche Dienste leistet. Es ist alles dabei - von völlig gesunden Patienten bis zu schweren Erkrankungen. Mal sind es verwirrte und aggressive, mal klar strukturierte und höfliche Menschen, die den Dienst anfordern - insgesamt rund 100.000 im Jahr.

Probleme, die Patienten zu finden

Keiner von ihnen macht sich Gedanken darüber, wie gut ihre Adressen zu finden sind. Manchmal müssen die Teams wegen schlechter Ausleuchtung oder unzureichender Beschilderung der Häuser mitten in der Nacht lange suchen, bis sie beim Patienten sind. Leicht ist es bei der 96-jährigen Patientin im Pflegeheim, die aggressiv geworden war, deshalb riefen die Mitarbeiter Hilfe.

Als Nawka eintrifft, schläft die alte Dame ganz friedlich. Schwieriger zu finden ist die junge Familie mit Kleinkind, das aber ebenfalls schon friedlich eingeschlafen ist, als der Arzt kommt. Fälle wie diese sorgen dafür, dass Nawka und Graf zwar ununterbrochen unterwegs sind, der Abend aber ruhig verläuft. Um Mitternacht übernimmt das nächste Team und ist bis zur Öffnung der Praxen für die Hamburger da.

Nächster Abend, Notfallpraxis in Hamburg-Farmsen. Als der diensthabende Christoph Albrecht direkt aus der Sprechstunde seinen Dienst in der Notfallpraxis antritt, warten schon rund ein Dutzend Patienten. Die meisten von ihnen wirken angeschlagen und ungeduldig. Viele haben Kinder dabei, fast alle sind erkältet. Albrecht beginnt sofort mit der Arbeit.

Auf rund 130 Quadratmetern stehen ihm fünf  Sprechzimmer zur Verfügung. Während die KV-Angestellten Jannin Muths und Marion Ruge die weiteren Anmeldungen entgegennehmen und über Mikrofone die Patienten in die Behandlungszimmer lotsen, ist Albrecht schon beim ersten Patienten. Er arbeitet schnell und routiniert, wirkt nie hektisch.

Seine Patienten haben zunächst Bagatellerkrankungen. Warum sie damit in eine Notfallpraxis kommen? "Das ist nach der Arbeit für mich einfacher", sagt ein Mann. Auch andere haben tagsüber nach ihren Angaben einfach keine Zeit gehabt, eine Praxis aufzusuchen.

Albrecht hinterfragt nicht, ob die Arztbesuche zu dieser Zeit notwendig sind, er behandelt. Wie wichtig die Notfallpraxen - außer in Farmsen gibt es noch eine in Altona - sind, zeigt sich nach rund einer Stunde: Eine türkische Familie stürmt mit einem reglosen Kleinkind auf dem Arm in die Praxis.

Entsetzte Familienmitglieder

Der diensthabende Kinderarzt und Albrecht verlassen sofort ihre gerade untersuchten Patienten. Albrecht schickt die Familie aus dem Behandlungsraum und beginnt mit seinem Kollegen die Untersuchung.

Die entsetzte Familie bangt in diesem Moment um das Leben des Kindes, die Frauen beten. Die meisten Anwesenden sind betroffen, es kursiert das Gerücht von einem Fieberkrampf. Niemand außerhalb des Behandlungsraums weiß, was wirklich passiert ist.

Als nach zehn Minuten noch immer beide Ärzte beim Kind sind und ein Rettungswagen mit einer Anästhesistin und Rettungssanitätern eingetroffen ist, verstärkt sich die Unruhe. Zugleich werden erste Wartende ungeduldig.

Immer wieder werden die beiden Angestellten gefragt, was denn los sei – und wann es weitergeht. "Ich brauche auch meine Tabletten", traut sich eine Patientin, die in einem der Untersuchungszimmer wartet, zu sagen. Muths erklärt ihr in deutlichen Worten den Notfall – und dass dieser Vorrang haben muss. Nach zwanzig weiteren Minuten ist das Wartezimmer bis auf den letzten Platz belegt, hauptsächlich mit erkälteten Patienten.

Andere warten lieber draußen. Erst nach 35 Minuten wird das Kind in ein Krankenhaus gebracht. Die beiden Ärzte kommen aus dem Behandlungsraum und machen sofort dort weiter, wo sie mit ihren Untersuchungen aufgehört haben.

Später berichtet Albrecht, dass das Kind mit Status Epilepticus in die Notfallpraxis gebracht wurde und eine erste Medikamentengabe nicht erfolgreich war. Am Ende sei das Kind aber stabil gewesen, es habe keine Gefahr bestanden.

Routine ist nötig, um arbeiten zu können

Seine äußerliche Ruhe trotz der Hektik durch die besorgten Angehörigen erklärt Albrecht mit seiner Routine. Er arbeitet neben der Praxis auch noch im Notdienst und als Ausbilder im Rettungsdienst. Situationen wie die eben erlebte sind für ihn kein Anlass, hektisch zu werden.

Der Rest des Abends verläuft wie meistens am Dienstag – es ist einer der ruhigeren Tage in der Woche. Genauso wie Nawka bleiben auch Albrecht nach dem Dienst nur wenige Stunden Schlaf, bis er wieder in der eigenen Praxis steht. Warum er das auf sich nimmt? "Hobby und Beruf fallen bei mir eng zusammen", sagt Albrecht.

Ihren Idealismus haben die beiden Ärzte trotz zum Teil unangemessener Patientenerwartungen nicht verloren. Die meisten der jährlich rund 70.000 Patientenanliegen in den beiden Notfallpraxen stuft Albrecht zwischen "leicht erkrankt" und völlig unsinnig" ein. Seine Mitarbeiterinnen drücken es etwas diplomatischer aus: "Die Menschen glauben, sie wären krank."

Hilfe suchen sie trotzdem – und ohne die beiden Notfallpraxen und den fahrenden Notdienst würden noch mehr von ihnen in die Notaufnahmen der Kliniken strömen. Dies sind allein in Hamburg schon rund 316.000 im Jahr. Albrecht, Nawka und viele ihrer Kollegen werden weiterhin ihre Unterstützung in den ambulanten Diensten bieten müssen.

Lesen Sie dazu auch: Hamburger KV-Vize: "Es stimmt, das System wird missbraucht"

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