Scheinwelt Demenzdorf

Ist doch alles nur Show

Rustikal, urban, christlich, indonesisch: Welche Filmkulisse darf's denn sein? In Demenzdörfern wie dem niederländischen Hogewey leben Patienten in einer künstlichen Scheinwelt. Kritiker finden dafür deutliche Worte: Sie sehen einen Verstoß gegen menschliche Grundrechte

Von Dr. Elke Oberhofer Veröffentlicht:
Essenziell bei Demenz: Jemand, der ängstlichen und unruhigen Patienten beisteht.

Essenziell bei Demenz: Jemand, der ängstlichen und unruhigen Patienten beisteht.

© Ocskay Bence / fotolia.com

AMSTERDAM. In Hogewey ist die Welt in Ordnung - finden Angehörige wie Anton K., der seine an Alzheimer erkrankte Ehefrau Gret zur Betreuung in dem Demenzdorf untergebracht hat. In einem YouTube-Film beteuert der Niederländer, wie glücklich seine Frau in ihrem neuen Zuhause ist.

Und wirklich, Hogewey, gelegen im kleinen Städtchen Weesp nahe Amsterdam, ist nach außen hin ein "Dorf" wie aus dem Bilderbuch. Fast nichts erinnert daran, dass es sich um ein Pflegeheim für Demenzkranke handelt. Die "Bewohner" - niemand darf sie hier Patienten nennen - leben in einer Kulisse, die ein idyllisches Abbild des Lebens "draußen" ist.

Vor dem Einzug wird von den Angehörigen eine von sieben "Lebenswelten" ausgewählt: Das Angebot reicht von "rustikal" über "urban" bis "christlich" und "indonesisch". Im Dorf gibt es einen "Boulevard", ein Café, einen Lebensmittelladen, ein Postamt, sogar ein Reisebüro.

Dass die Bewohner nicht einfach eine Reise auf die Fidschis buchen können, versteht sich von selbst. Aber "einkaufen" können sie, sich ins Café setzen, sich von den Betreuern, die dort Kellner spielen, bedienen lassen.

Die Pflegekräfte geben sich in Hogewey nicht als solche zu erkennen. Die gesamte Organisation findet hinter der Kulisse statt. Das 15.000 Quadratmeter große Gelände wird von einer Art "Außenschale" umgeben.

Zwei personell besetzte Ein- und Ausgänge sorgen dafür, dass die 152 Bewohner das Gelände nicht ohne Begleitung verlassen. Ab 22.30 Uhr beginnt eine akustische Überwachung mit Monitoren und Sensormatten.

"Recht auf Leben in einer realen Welt"

Bei allem schönen Schein erinnert das Ganze auf unangenehme Weise an den Film "Die Truman-Show": Darin ist der Held, Truman Burbank, Hauptdarsteller einer Reality-Show, und zwar schon seit seiner Kindheit.

Die Zuschauer schalten jeden Tag ein, um zu erfahren, wie es mit "ihrem" Helden in der idyllischen Ortschaft Seahaven weitergeht, sehen ihn gegen die Tücken des Alltags kämpfen, die das Filmteam fortwährend für ihn erfindet, amüsieren sich über seine Naivität in Liebesangelegenheiten, fiebern mit, wenn er mit seinem kleinen Boot in Seenot gerät. Dass er dabei ununterbrochen von Kameras beobachtet wird, bleibt Truman verborgen.

Für Michael Schmieder, den langjährigen Leiter des Demenzzentrums Sonnweid im schweizerischen Wetzikon im Kanton Zürich, widerspricht das Konzept des Demenzdorfs einem menschlichen Grundrecht: dem Recht, in einer realen Welt zu leben.

Aufgrund der Diagnose "Demenz" in eine Scheinwelt gesetzt zu werden, ist für Buchautor* Schmieder eine "Sauerei" ("Dement, aber nicht bescheuert. Für einen neuen Umgang mit Demenzkranken."

Von Michael Schmieder und Uschi Entenmann. Ullstein Buchverlage GmbH 2015). "Unabhängig von der Diagnose gibt es eine Verpflichtung, dem Patienten gegenüber ehrlich zu sein", sagte Schmieder der "Ärzte Zeitung".

Dass es auch ohne Schwindel geht, zeigt das Beispiel Sonnweid: Hier steht die Begegnung zwischen gleichwertigen Menschen im Vordergrund. Schmieder: "Die Patienten sollen Vertrauen zu uns haben, deshalb lügen wir sie nicht an." In Sonnweid nennt man das Pflegeheim nicht "Dorf", den Patienten wird nicht vorgegaukelt, dass sie in der Reha oder auf Urlaub sind.

Es gibt keine fingierte Bushaltestelle, mit der man den Patienten vortäuscht, sie könnten das Heim jederzeit verlassen. Und vor allem gibt es nicht diese Zweiteilung zwischen denen, die sich der Realität bewusst sind, und den anderen, die dieses Wissen aufgrund ihrer Erkrankung nicht haben.

Gebraucht wird menschliche Zuwendung

Bedarf es wirklich einer Scheinwelt, um Demenzpatienten gut zu betreuen? In puncto Zufriedenheit stehen Einrichtungen wie Sonnweid den Demenzdörfern in nichts nach.

Das Beispiel zeigt: Man muss Patienten nicht in nostalgische "Puppenhäuser" versetzen (wie es an den Orten ihrer Kindheit wirklich ausgesehen hat, weiß ohnehin meist niemand mehr; von Idylle konnte wohl in den meisten Fällen keine Rede sein).

Sie brauchen keine auf ihre Zimmertür geklebte Folie, die aussieht wie früher ihre Haustür, keine virtuelle Zugfahrt durch malerische Landschaften zur Beruhigung, keine PartykellerAtmosphäre aus den 60er-Jahren, um die Laune zu heben, und was es sonst noch so alles gibt für den angeblichen "Bedarf" des Demenzkranken.

Was benötigt wird, ist menschliche Zuwendung, jemanden, der dabei bleibt, wenn die Patienten ängstlich und unruhig sind, der auf ihre Alltagsnöte eingeht, versucht, ihren Kummer zu verstehen, etwa wenn sie verstorbene Angehörige vermissen.

Die mit viel Aufwand in Szene gesetzten Täuschungsmanöver haben gar nichts mit den Betroffenen zu tun, sondern viel eher mit uns, vermutet Schmieder, mit der Gesellschaft, den Angehörigen, den Betreuern: "Wir greifen zu Notlügen, weil wir selber Not haben."

Diese Not bestehe darin, dass wir die Krankheit nicht schönfärben können; deshalb tun wir es mit der Umgebung. Aber genau das braucht es gar nicht. Eine Scheinwelt zur Beruhigung des schlechten Gewissens der Angehörigen und Betreuer, das ist etwas, auf das die Patienten gut verzichten können.

Mehr zum Thema
Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen
Lesetipps
Der papierene Organspendeausweis soll bald der Vergangenheit angehören. Denn noch im März geht das Online-Organspende-Register an den Start.

© Alexander Raths / Stock.adobe.com

Online-Organspende-Register startet

Wie Kollegen die Organspende-Beratung in den Praxisalltag integrieren