Ärzte ohne Grenzen in Afghanistan

Die Gefahr ist immer da

Können internationale Hilfsorganisationen in Afghanistan arbeiten, ohne angegriffen zu werden? Ein Jahr nach dem Bombardement einer Klinik von Ärzte ohne Grenzen in Kundus ist eine Wiedereröffnung schwierig.

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In Afghanistan ist die Arbeit für internationale Hilfsorganisationen meist extrem schwierig. Im Bild ein Labor in einem Krankenhaus in Afghanistan.

In Afghanistan ist die Arbeit für internationale Hilfsorganisationen meist extrem schwierig. Im Bild ein Labor in einem Krankenhaus in Afghanistan.

© Ton Koene / dpa

KABUL. Vor knapp einem Jahr wurde das Traumazentrum von Ärzte ohne Grenzen im nordafghanischen Kundus von US-Soldaten unter afghanischer Anleitung bombardiert – man hatte es angeblich für eine Talibanstellung gehalten.

Bislang gibt es keine Koordination unter jenen, die den Krieg in Afghanistan führen und kaum einen gemeinsamen Nenner zum Schutz der Zivilisten, beklagen der Leiter von Ärzte ohne Grenzen, Guilhem Molinie, und die deutsche Projektleiterin Angelika Herb im Gespräch mit der dpa

dpa: Herr Molinie, bis heute hat die Klinik nicht wieder aufgemacht, obwohl Kundus ein Hauptziel der Taliban ist und sich die humanitäre Situation dort weiter stark verschlechtert. Wieso?

Guilhem Molinie: Wir wollen ja. Aber wir verhandeln seit einem Jahr mit Amerikanern, mit der afghanischen Regierung, mit den Taliban, mit wirklich allen Parteien zum Krieg über die Konditionen, unter denen wir dort wieder eine Klinik aufmachen können.

Sicherheit für die Klinik ist ein Faktor. Akzeptanz für die Tatsache, dass Ärzte alle Menschen behandeln, die zu ihnen kommen und ihre Waffen draußen lassen, ein anderer – das beinhaltet Sicherheitskräfte, internationale Soldaten und eben die Taliban.

Die große Frage für uns ist derzeit: Ist es noch möglich, in Afghanistan neutral medizinische Versorgung anzubieten, ohne angegriffen zu werden?

Was für Reaktionen bekommen Sie auf diese Frage?

Sie variieren stark. Der Krieg wird ausgefochten von so vielen Akteuren. Von US-Spezialkräften, Spezialkräften anderer Länder, afghanischen Spezialkräften, der regulären Armee, der Polizei, lokalen Polizeimilizen, illegalen Milizen – und es gibt so gut wie keine Koordination.

Und so gut wie keinen gemeinsamen Nenner, was die Akzeptanz der Genfer Konventionen zum Schutz von Zivilisten angeht.

Frau Herb, Ärzte ohne Grenzen unterstützt auch eine weitere Klinik in Helmand – zweites Hauptziel der Taliban in diesem Jahr. Sie waren gerade eine Woche in der Provinzhauptstadt Laschkargar, die mittlerweile von Gefechten eingekesselt ist. Wie ist die Situation?

Angelika Herb: Wir sind deswegen nicht stärker beschäftigt, wie man annehmen könnte. Im Gegenteil: Als die Kämpfe so richtig aufgeflammt sind, sind viele Betten leer geblieben. Die Leute trauen sich einfach nicht mehr aus den Häusern.

Unsere Abteilung für unterernährte Kinder ist normalerweise voll und laut, aber dieser Tage – stiller. Und wir merken, dass die Fälle, die wir sehen, erst in der großen Not gebracht werden und sich dann natürlich ernster präsentieren.

Zum Beispiel?

Wir hatten einen Meningitis-Fall, ein Mädchen aus Nawa, einem der umkämpften Nachbarbezirke. Das Kind war in schlechter Verfassung. Sie hatte schon seit vier Tagen Symptome, aber wegen der Kämpfe war die Straße gesperrt und die Eltern konnten sie nicht bringen. 24 Stunden nach Beginn der Behandlung ist sie dann in ein Koma gefallen und gestorben.

Auch in Helmand nehmen die Luftangriffe auf Taliban und die Taliban-Angriffe auf die Provinzhauptstadt zu. Wie kann man dort ein zweites Kundus verhindern?

Ich habe dort die Runde gemacht, Armeechef, Polizeichef und so weiter und die GPS-Koordinaten der Klinik und unseres Gästehauses nochmal ausgeteilt. Ich habe auch nochmal erklärt, wer wir sind, dass wir neutral sind, dass keine Waffen in die Klinik dürfen. Und das war sehr notwendig.

Es hat mich eine Stunde gekostet, bis der neue Polizeichef gesagt hat, okay, ich gebe das an meine Leute weiter.

Ist unter den internationalen Truppen das Verständnis für den Schutz von Kliniken und Zivilisten besser?

Guilhem Molinie: Nein, wir sehen das nicht bei allen. Es gibt den Bericht des US-Militärs über das Bombardement der Klinik in Kundus. Der Spezialkräfte-Kommandeur sagt dort: ‚Ich konnte nicht glauben, dass dort noch Zivilisten leben sollten.‘ Sie sind aber da. Und sie brauchen Hilfe und die Ärzte. (dpa)

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