Nach Umweltkatastrophen

Wie Rituale Halt geben

Notfallseelsorger Reiner Fleischmann kommt meist mit den ersten Einsatzkräften in Katastrophengebiete. Seine eigentliche Arbeit beginnt aber oft erst, wenn die sichtbaren Schäden verschwunden sind.

Von André Jahnke Veröffentlicht:
Die Gemeinschaft gibt traumatisierten Menschen oft Halt.

Die Gemeinschaft gibt traumatisierten Menschen oft Halt.

© Christian Schwier / Fotolia

Jahnke: Was war der größte Unterschied zwischen den beiden Hochwasserkatastrophen 2013 im Deggendorfer Stadtteil Fischerdorf und 2016 im niederbayerischen Simbach am Inn?

Reiner Fleischmann: In Simbach und im Landkreis kamen sieben Menschen ums Leben. Das katapultiert so eine Katastrophe auf eine ganz andere Ebene. Das schafft Bilder bei den Betroffenen: Wie es denen wohl ergangen ist, was die durchleiden mussten.

Es gibt sehr enge soziale Bezüge in einer kleinen Stadt wie Simbach. Da bekommt man es mit, wenn der Nachbar verstirbt und man vielleicht ein paar Stunden vorher noch beisammen war.

Welche Altersgruppen sind besonders gefährdet, psychische Probleme zu bekommen?

Fleischmann: Sehr belastet sind die Älteren, weil sie keine Perspektive auf Zukunft haben. Die Banken geben ihnen keine Kredite. Aber auch im Familienverband kann es zu Konflikten kommen. Der eine Partner ist mit der Verarbeitung manchmal weiter als der andere. Das birgt Potenzial für Konflikte.

Und auch Kinder sind gefährdet. Viele werden ganz still. Mir haben Kinder gesagt: Ich will zur Oma nach Oberbayern. Dort regnet es nicht. Aber auch: Ich will nicht mehr zu Hause bleiben, Mama und Papa schreien sich nur noch an.

Warum ziehen die Menschen nach einem verheerenden Hochwasser nicht aus dem Gebiet weg?

Fleischmann: Weil das ihre Heimat ist. Das hat mit Verwurzeltsein zu tun. Viele sind seit zwei, drei Generationen dort. In Fischerdorf gibt es einen hohen Anteil älterer Menschen. Die haben vieles mit eigenen Händen aufgebaut.

Sie sagen: Wenn es uns wieder erwischt, dann erwischt es uns halt wieder. Also räumen sie den Müll weg, bauen ihre Häuser neu auf, ziehen ein und schlafen im ersten Stock, weil es so Vorschrift ist.

Und dann kommt ein heftiges Unwetter. Sie wachen auf, teilweise schweißgebadet, teilweise mit Schüttelfrost und laufen nach unten und schauen, ob Wasser da ist. Die Bilder, die Jahre zurückliegen, sind weiter in ihnen.

Es ist eine ständige, über Monate und Jahre andauernde Grundbelastung. Nur wenige Betroffene, die erst vor einigen Jahren nach Fischerdorf gekommen waren, sind nach der Katastrophe weggezogen.

Wie sieht es mit der stationären Betreuung aus?

Fleischmann: Generell gibt es zu wenige stationäre Plätze. Wir haben im ostbayerischen Raum Wartezeiten zwischen vier Monaten und zwei Jahren. In dieser Zeit passiert viel, die Belastung manifestiert sich.

Der Großteil der Menschen sind Selbstheiler: Sie schaffen aufgrund ihrer Struktur und ihres sozialen Umfeldes, alles auf die Reihe zu bekommen. Aber in Fischerdorf ist das soziale Netzwerk genauso betroffen.

Und wenn einer zum zehnten Mal kommt: Ich muss dir das wieder erzählen. Dann platzt schon mal der Kragen: Ich kann es nicht mehr hören, du regst mich auf. Dann zieht sich der Betroffene zurück.

Welche Tipps können Sie geben?

Fleischmann: Auch immer wieder für sich selbst sorgen. Wir Menschen sind von Ritualen geprägt. Sei es der Kaffee am Morgen, das gemeinsame Essen, das gibt Halt, das gibt Struktur.

Ich vergleiche es gerne mit einem Boot mit zwei Rudern. Wenn ich immer nur in eine Richtung rudere, fängt das Boot an, sich zu drehen. Wenn ich zugleich rudere, also auch für Entspannung sorge, dann komme ich weiter. (dpa)

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