Demenz-Workshops

"Das Gedicht als Knetmasse begreifen"

Lars Ruppel arbeitet seit 2004 als "Mietpoet". Im Interview mit der "Ärzte Zeitung" erklärt er, wie seine Demenz-Workshops funktionieren.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Lars Ruppel zeigt Pflegenden, wie sie mit Poesie wieder mehr Lebensqualität in den Alltag von Demenzpatienten bringen können.

Lars Ruppel zeigt Pflegenden, wie sie mit Poesie wieder mehr Lebensqualität in den Alltag von Demenzpatienten bringen können.

© Pierre Jarawan

Ärzte Zeitung: 2009 haben Sie Gary Glazner, den Gründer von "The Alzheimer's Poetry Project", nach Deutschland eingeladen. Was haben Sie von ihm gelernt?

Lars Ruppel: Begeisterung. Seiner Art, etwas in den Menschen zu entflammen, ist unvergleichlich. Ich habe dann seine Grundidee ausgebaut und arbeite immer noch daran.

Nach dieser Begegnung entwickelten Sie Ihr Projekt "Alzpoetry", aus dem "Weckworte" hervorging. Wo liegen die Gemeinsamkeiten und wo die Unterschiede zu Glazners Projekt?

Alzpoetry war ein Projekt, das auf Wiederholung von bekannten Gedichten setzte und dabei einfache Inszenierungstechniken nutzte. Das Projekt Weckworte beschäftigt sich mit der Frage, mit welchen Techniken neue kulturelle Impulse in der Pflege und in den Pflegealltag implementiert werden können. Die neuen Techniken sind auf jedes Gedicht anwendbar und lassen sich während routinierter Pflegeabläufe anwenden. Außerdem geht es um einen bewussten Umgang mit Sprache und eine kulturelle Aufwertung in der Pflege.

Mit welchen Gedichten welcher Autoren erreichen Sie Demenzpatienten am besten? Müssen sich die Gedichte beispielsweise reimen? Per se einfach sein? Oder funktioniert auch etwa ein Monolog aus einem Drama Shakespeares?

Reime sind einfach klasse. Sie bringen Rhythmus mit sich und sprechen einen Sprachspieltrieb in uns an. Ihre komprimierte Form sorgt für eine für unsere Zuhörer angenehme Kürze und Dichte. Wer ein Gedicht gerne mag, wird es auch für einen Menschen mit Demenz vortragen können, egal wie schwer es ist. Jeder Mensch hat zu jeder Zeit seines Lebens Anspruch auf jedes Gedicht.

Wie gehen Sie auf die besonderen Bedürfnisse der Demenzpatienten ein? Wie oft wiederholen Sie beispielsweise den Vortrag eines Gedichts? Ich habe gelesen, dass Sie die Patienten zwischendurch berühren – erreichen Sie sie dadurch besser?

Es ist wichtig, das Gedicht als Knetmasse zu begreifen. Wie kann ich es formen, damit es den kognitiven Bedürfnissen der Zuhörer entspricht. Ich kann es wiederholen, kürzen, filetieren, verlängern, verändern, auf eine Berührung reduzieren, als Drehbuch nutzen, dazu tanzen, es zerstören, darüber reden ... Wir müssen den Respekt gegenüber den Büchern verlieren.

Bitte schildern Sie das typische Setting eines "Weckworte"-Workshops: Wie viele Teilnehmer gibt es, wie lange dauert eine Sitzung, reicht eine Sitzung?

Während den zwei Stunden Workshops schule ich die maximal 20 Teilnehmer. Danach gehen wir zu einer Gruppe betroffener Menschen und machen denen mit einer 45-minütigen Poesieshow eine riesengroße Freude. In der workshopinternen Evaluation teilen wir unsere Beobachtungen und überlegen, wie wir die Ideen des Weckworte-Projektes direkt in den morgigen Arbeitstag transferieren.

Sie bereiten Schüler ebenso wie Angehörige und Schwestern/Pfleger auf den Gedicht-Vortrag mit Demenzpatienten vor. Sind die Unterrichtsinhalte dieselben, oder gibt es gruppenspezifische Unterschiede? Wer begreift am schnellsten?

Kinder. Die spüren, dass da jemand Hilfe benötigt und sind unfassbar empathisch. Sie wachsen tausend Meter und übernehmen Führungspositionen.

Gibt es eine zentrale Botschaft, die die Kursteilnehmer vor ihrer Begegnung mit den Patienten verstanden haben müssen?

"Zeit braucht Zeit". Da sich viele Teilnehmer vorher kaum mit Poesie beschäftigt haben, kommt ihnen der Vortrag eines Gedichtes trotz aller Begeisterung aus den Workshops sehr schwer vor. Der Weg zur Poesie als Bestandteil des Alltags beginnt mit einzelnen Zeilen, kleinen Reimen und vielen übersprungenen Hürden.

Ich stelle mir vor, dass die Begegnung mit Demenzpatienten für manche Menschen sehr emotional ist. Bitte schildern Sie einige Eindrücke aus der Praxis.

Die weinen, die lachen, die tanzen, die wollen wiederkommen, die wollen nie wieder kommen: Die Reaktionen der Menschen auf Menschen mit Demenz ist so vielfältig wie die Menschen mit Demenz selbst. Viele erkennen ihre Verwandten oder sich selbst wieder, manche sind angeekelt. Das ist alles in Ordnung. Der Mensch altert gemeinhin eben nicht wie ein Hollywoodstar, der mit 70 noch aussieht wie mit 40. Ich versuche zu vermitteln, dass all diese Emotionen, positiv oder negativ, etwas sehr wertvolles sind und diese Arbeit zu etwas sehr besonderem machen.

Stoßen Sie selbst manchmal an Ihre Grenzen? Wenn ja, wie gehen Sie damit um?

Stimmlich, ja. Man muss halt sehr laut reden und bei mehreren Workshops in der Woche geht das ganz schön auf die Stimmbänder.

Wie oft besuchen Sie Bewohner/Patienten in Alten- und Pflegeheimen pro Jahr?

Das kann ich wirklich nicht genau sagen. Die Buchungen schwanken von Jahr zu Jahr, mal sind es drei pro Woche, mal nur einmal im Monat.

Sie treten weiterhin bundesweit als Poetry-Slammer auf. Haben sich die Gewichte im Lauf der Jahre verschoben? Oder anders gefragt: Sind Sie mehr Slammer oder Workshopleiter?

Ich bin Mietpoet. Überall wo man mich bezahlen kann, trete ich auf oder coache im Rahmen des Weckworte-Projektes. Ich fühle mich aber nicht als Künstler, ich bin Dienstleister, der für die Arbeit mit Worten Geld erhält.

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