ADAC

Arzt im Anflug

Zu Wasser, zu Lande, und in der Luft – der Ambulance Service des ADAC holt verletzte und kranke Patienten aus aller Welt nach Hause. Für die dringendsten Fälle starten von Nürnberg intensivmedizinisch ausgerüstete Flugzeuge. Immer mit an Bord: Flugärzte aus einem Pool von 80 erfahrenen Spezialisten.

Von Christina Bauer Veröffentlicht:
An Bord der Dornier 328Jets ist sogar eine ECMO möglich.

An Bord der Dornier 328Jets ist sogar eine ECMO möglich.

© ADAC

MÜNCHEN. Der Learjet 60XR ist ein hochmodernes Flugzeug, das bis zu 860 Kilometer pro Stunde und bis zu 3800 Kilometer weit fliegen kann. Im Fliegerpool des ADAC-Auslandsflugdienstes ist er das schnellste Flugzeug mit der größten Reichweite. Zusätzlich gibt es eine Beechcraft Super King Air 350 und zwei Dornier Fairchild 328-300 Jets. Gestellt werden sie von der Aero-Dienst GmbH & Co. KG in Nürnberg. Mindestens zwei Flieger des ADAC-Ambulance Service sind jeden Tag unterwegs, oft alle vier. Die Passagiere bekommen von all dem allerdings meist nichts mit.

Denn in so einer Maschine fliegen nur Kranke oder Schwerverletzte, deren Zustand einen Flugeinsatz nötig macht. Um Herzinfarkt, Schlaganfall oder schwere Unfallverletzung geht es besonders oft. Dann startet einer der Intensivmedizin-Flieger in Nürnberg und holt den Patienten ab, damit er in einer wohnortnahen Klinik behandelt werden kann.

Bei Andreas M. war der Fluggrund eine schwere Infektion. Atemnot, Schwäche, Organversagen – auf einmal wurde die Mexiko-Reise des 43-jährigen Oberbayern zur lebensgefährlichen Ausnahmesituation. Ein Ambulanzflieger brachte ihn im Frühling 2016 ans Universitätsklinikum in Erlangen, auf die Intensivstation. Er war einer der bisher wenigen, die beim Flug eine Extracorporale Membran-Oxygenierung (ECMO) bekamen.

Koordination von München aus

Das rettete sein Leben. Erst seit 2012 ist die On Board-ECMO mit neueren, kleineren Geräten möglich, und nur in den Dornier Jets. Flugarzt Dr. Michael Meyer war in Mexiko mit einigen Kollegen dabei. Es war ein gelungener Einsatz, resümiert er. Bei einem Veranstaltungstag in der Münchner ADAC-Zentrale gibt er Einblicke in seine Arbeit. In dem dreieckigen Hochhaus-Turm mit den farbig umrandeten Fenstern werden auch die Ambulanz-Einsätze koordiniert.

Meyer ist seit 1993 beim Auslandsflugdienst, hat mehr als 1000 Flüge begleitet. Seit 2009 leitet er den Dienst und koordiniert die Arbeit der etwa 80 Ärzte. Er selbst fliegt nun seltener, etwa 25 Einsätze pro Jahr sind es noch. "Irgendjemand muss den ganzen Laden auch organisieren", sagt er und lacht.

Die Hälfte der Zeit ist Meyer als Oberarzt an der Anästhesiologischen Klinik des Universitätsklinikums Erlangen. Bei den meisten anderen Flugärzten ist das ähnlich. Sie bringen viel Erfahrung mit, für die luftigen Sondereinsätze bekommen sie ein Extra-Training. Flugärzte, Sanitäter und Piloten haben allein 2016 mehr als 1250 Patienten nach Hause gebracht. Das ist nur ein Bruchteil der Auslands-Betreuungen. Deren Zahl war mit 55.000 so hoch wie noch nie. 2750 ärztlich begleitete Linien-Heimflüge waren dabei, mehrere Tausend Krankenwagen-Rücktransporte, am häufigsten aber eine Betreuung direkt vor Ort, im Ausland.

Telefonhörer statt Skalpell

All das erfordert ein umfassendes Einsatz-Netzwerk. In den Ambulance Service-Büros im zweiten Stock der Münchner ADAC-Zentrale wird es koordiniert. Sachbearbeitung, Medizinischer Bereich und Flugdisposition sind dort Tür an Tür. Insgesamt gibt es etwa 100 Mitarbeiter, im Medizinischen Bereich arbeiten 23 Ärzte im Schichtdienst. Es sind Allgemeinärzte dabei, Orthopäden, Herzchirurgen, Kinderärzte und viele weitere Fachrichtungen. Sie sind europaweit vernetzt mit 14 weiteren Kollegen in kleineren Notfallzentren, etwa in Griechenland, Kroatien und der Türkei. Das vereinfacht die Sache mit den Sprachen, und Vor-Ort-Kenntnisse sind ebenfalls hilfreich. Die Mediziner bringen jahrelange Klinik- und Praxiserfahrung mit. In der Zentrale hantieren sie dann mit Computermaus und Telefonhörer statt mit Skalpell oder Ultraschall.

Leichter ist das nicht unbedingt, das weiß Dr. Irmgard Seidl. "Es ist unglaublich schwierig, durch einen telefonischen Kontakt irgendetwas einzuschätzen", erklärt sie. Seidls Schreibtisch steht am Kopfende des Großraumbüros. Sie leitet den Medizinischen Bereich seit sechs Jahren, hat ihn selbst maßgeblich aufgebaut. Beim ADAC ist sie schon seit zwei Jahrzehnten. Oft stehen viele Hürden zwischen dem Arzt und den Informationen, die ihm eine Diagnose erlauben. Da sind die Entfernung, die Sprache, bruchstückhafte Einzelheiten, die geprüft und oft erst nach und nach zusammengesetzt werden müssen.

Es geht nicht jedes Mal um Leben und Tod, wenn bei den Sachbearbeitern ein Telefon klingelt und der Fall nach der Basiserfassung an die Mediziner weitergereicht wird. Aber damit rechnen müssen sie immer. "Wenn ein Patient in Albanien einen Herzinfarkt hat, aber das dortige Katheterlabor ist kaputt, dann müssen wir sofort hinfliegen und ihn holen", so Seidl.

Je nach Land können auch Situationen dramatisch werden, die anderswo leicht zu lösen wären. In Zentralafrika kann ein Armbruch ein schwieriges Problem sein. Den Betroffenen zum Arzt zu lotsen wird wegen der schlechten Infrastruktur schnell zur Mammutaufgabe. Akutes Kopfzerbrechen bereitet Seidl derzeit ein Sri Lanka-Reisender mit schwerem Dengue-Fieber. Zwar können die Ärzte im Land die Krankheit grundsätzlich gut behandeln. Aber dazu muss der Patient erst an einen geeigneten Ort. Wieder ist vor allem die Infrastruktur das Problem. "Das kann man sich gar nicht vorstellen, und auch die Patienten können es sich oft vorher nicht vorstellen", schildert Seidl.

Immer wieder haben es die Ärzte auch mit vermeidbaren Situationen zu tun. Mit einer schweren, chronischen Lungenkrankheit nach La Paz auf 4000 Meter Höhe zu reisen? Nicht unbedingt ideal, sagt Seidl. In ihrer Zeit als niedergelassene Internistin habe sie Patienten von so etwas dringend abgeraten. Aber viele erzählten nicht einmal ihrem Hausarzt, dass sie verreisen, geschweige denn, wohin. "Ich wundere mich schon", sagt sie.

Trifft eine neue Anfrage ein, beginnen die Sachbearbeiter, Informationen zu sammeln. Von ihnen waren viele schon als Rettungsassistenten oder Krankenschwestern tätig. Nebenan bei den Ärzten geht es dann darum, sich von einem oft ein, zwei Kontinente entfernten Sachverhalt ein fundiertes Bild zu machen. Hier kommt das System CASE IO ins Spiel. Es wurde ursprünglich als Zweitmeinungssystem für die Weltgesundheitsorganisation WHO entwickelt, Modellland war die Mongolei. Auf den Münchner Rechnern ist eine adaptierte Version im Einsatz. Ärzte von Indonesien bis Südafrika können direkt Dateien hochladen. Sie bekommen dazu einen Email-Link, den sie genau einmal und genau dafür nutzen können, das gewährleistet die Datensicherheit.

Die moderne Technologie ändert aber nichts daran, dass Informationen manchmal nur spärlich tröpfeln. In anderen Fällen bekommen die Ärzte alles, was ohne persönlichen Patientenkontakt möglich ist – Ergebnisse bildgebender Verfahren, Fotos von Verletzungen, sogar Katheter-Videos waren schon dabei. All das soll helfen, zu entscheiden: vor Ort behandeln oder abholen? Wenn transportiert werden soll: Wann, wohin und wie?

Der Mittel sind viele, sei es ein Insel-Bootstransfer in Thailand, oder ein Flug im Wasserflugzeug in der kanadischen Wildnis. Ein Maultier schleppte einen Wanderer einst aus einer entlegenen Region in Norwegen brav zum Wagen. Der Mann konnte wegen einer Blutblase nicht mehr gut laufen. Der zuerst von ihm erfragte Helikopter wurde als unverhältnismäßig eingestuft. Der ADAC konnte aber das Maultier des Hüttenwirtes leihen, für damals 150 Mark. "Es fällt nicht überall der Hubschrauber vom Himmel", so Seidls Fazit. Immerhin bedeutet jeder Ambulanzflug Kosten in fünf- bis sechsstelliger Höhe.

Tausende Kliniken weltweit

Eine interne Datenbank dokumentiert die Versorgungssituation in tausenden Kliniken weltweit. Jeder international eingesetzte Arzt beantwortet Evaluationsfragen, um die Klinik einstufen zu können. Wenn Seidl verreist, schaut sie sich nebenbei gern selbst das ein oder andere Krankenhaus an. Denn nähme man es mit der Qualität nicht genau, wäre fast alles so gut wie überall behandelbar – und es wäre medizinisch kaum jemals notwendig, einen Patienten abzuholen.

Der Ambulance Service berücksichtigt bei der Frage, ob ein Patient abgeholt werden muss, die ärztliche Versorgung, pflegerische Betreuung, Hygiene, Equipment, Spezialisierung, therapeutische Standards. So kann es sein, dass ein Patient aus Klinik A einer Metropole abgeholt wird, während er an Krankenhaus B sicher bleiben kann.

Wenn ein Flug terminiert ist, können sich immer noch Hürden auftun. "Es kommt vor, dass am Zoll ein Beamter mit dem Pass des Patienten verschwindet und nicht mehr auftaucht", berichtet Claudia Dickhäuser. Die Disponentin koordiniert Flugrouten. Neben ihr an der Wand hängen Uhren für alle Zeitzonen, an einer anderen eine Weltkarte. Auch der Follow Me-Wagen kann zur Hürde werden, wenn er auf sich warten lässt. Denn ohne ihn kann der Krankenwagen nicht aufs Flughafen-Rollfeld, der Patient nicht ins Flugzeug.

Manchmal ist es auch der Flugarzt selbst, der einen Flug stoppt. Nämlich dann, wenn es sonst für den Patienten doch zu gefährlich werden könnte. Eine unerwartete Komplikation, Bedarf an Spezial-Ausrüstung – in solchen Fällen muss abgewogen und unter Umständen neu koordiniert werden. Schließlich haben die Flugärzte ab der Übernahme die Verantwortung. "Sie sind alleine vor Ort und müssen alles allein entscheiden", so Meyer. "Solche Sachen sind natürlich hochkomplex."

An Bord der ADAC-Luftrettung

- Eine Redakteurin der "Ärzte Zeitung" begleitete einen Tag lang den ADAC-Helikopter Christoph 32.

Ihre Reportage:

www.aerztezeitung.de/860000

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