Seehofersche Springflut und Panik vor dem Kollektivregress

Katerstimmung unter Deutschlands Ärzten: Kliniker stürzen sich zu Tausenden in die Niederlassung, und die Vertragsärzte fürchten sich panisch vor einem Kollektivregress.

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Düstere Wirtschaftsprognose für das erste Jahr mit dem Honorarbudget.

Düstere Wirtschaftsprognose für das erste Jahr mit dem Honorarbudget.

© Ärzte Zeitung

Bonn/Köln, im Januar 1993. Die Bundesregierung legt den Jahreswirtschaftsbericht vor. Die Prognose ist düster: Nach einem wiedervereinigungsbedingten Boom schlittert die westdeutsche Wirtschaft in eine Rezession, das reale Sozialprodukt wird wahrscheinlich sinken.

Auf niedrigem Niveau wächst die Wirtschaft im Osten. Das reicht aber nicht für mehr Beschäftigung aus: Sowohl im Westen wie auch im Osten steigt die Arbeitslosigkeit.

Aufgrund der mit dem Gesundheitsstruktur-Gesetz festgeschriebenen Honorierungsregeln für die Ärzte - ausgehend von der Gesamtvergütung des Jahres 1991 dürfen die Honorare nicht stärker als die Grundlohnsumme steigen - müssen sich die Kassenärzte auf eine Nullrunde einstellen - oder sogar auf Verluste.

Besonders fatal wirken sich dabei die neuen, von der KBV selbst seit langem geforderten gesetzlichen Grundlagen für die Bedarfsplanung aus: Bevor Zulassungssperren greifen, gibt es eine letzte Frist bis zum 31. Januar 1993, einen Antrag auf Neuzulassung als Vertragsarzt zu stellen.

Eine vorläufige Bilanz Ende Februar zeigt: Es hat mehr als 15.000 Zulassungsanträge gegeben. Besonders krass sieht es in Bayern aus: Dort zählte die KV zwischen Oktober 1992 und dem 31. Januar 1993 insgesamt 3884 Anträge, allein 1124 für das überversorgte München. Der Vorsitzende des Marburger Bundes, Dr. Frank Ulrich Montgomery, spricht von einer "Seehoferschen Springflut".

Fünf Ärzte scheitern vor dem Bundesverfassungsgericht

Unterdessen scheitert der Versuch von fünf Ärzten, mit Hilfe des Marburger Bundes vor dem Bundesverfassungsgericht mit einer Einstweiligen Anordnung die neuen Regeln der Bedarfsplanung auszuhebeln.

Die Begründung des Gerichts: Würden die angegriffenen GSG-Bestimmungen einstweilen außer Kraft gesetzt werden, jedoch später im Hauptsacheverfahren bestätigt, dann drohten schwerwiegende Nachteile für die Allgemeinheit. Denn dann sei den Vertragsärzten ihr Status nicht mehr zu entziehen. In diesem Zusammenhang schreibt das Bundesverfassungsgericht den Ärzten ins Stammbuch: Die Finanzierbarkeit der GKV ist ein "geschütztes Gemeingut".

Infokampagne der KBV zur Kollektivhaftung der Ärzte

Derweil startet die KBV eine Informationskampagne zum Arzneimittelbudget und zur Kollektivhaftung der Ärzte. In einem Worst-Case-Szenario, das auf der Fortschreibung fast zweistelliger Wachstumsraten der Arzneiausgaben in den Vorjahren beruht, wird eine Budgetüberschreitung von bis zu vier Milliarden DM prognostiziert.

Und insinnuiert, dass die Vertragsärzte für diese Summe haften. An der Basis führt dies zu massiver Verunsicherung, teils werden Verordnungen verweigert, teils werden Kassenpatienten Privatrezepte ausgestellt. Tatsächlich ist die Kollektivhaftung der Ärzte auf 280 Millionen Euro beschränkt.

Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer wiegelt ab und weist auf die Verantwortung der KBV hin: Mit ihr seien alle Regelungen zu Arzneimitteln "Satz für Satz, Wort für Wort" abgestimmt worden. (HL)

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