Was bringen AKW-Notfallpläne tatsächlich?

Viele Menschen kennen sie nicht: Schutzpläne für den Katastrophenfall in deutschen Kernkraftwerken. Sind sie effizient? Experten äußern Zweifel.

Christoph FuhrVon Christoph Fuhr Veröffentlicht:
Das Atomkraftwerk Biblis in der Abenddämmerung.

Das Atomkraftwerk Biblis in der Abenddämmerung.

© Fredrik von Erichsen/dpa

NEU-ISENBURG. Sie waren nur mit Bademänteln bekleidet, hatten Wärmflaschen unterm Arm und Rasierschaum im Gesicht: 30 Atomkraftgegner aus dem Heilbronner Ortsteil Horkheim sorgten Ende 2009 am Bahnhof von Nürtingen am Fuße der Schwäbischen Alb für große Irritationen.

Käme es im Kernkraftwerk Neckarwestheim zum Gau, dann müssten die Nürtinger die Menschen aus dem in der Nähe des AKW gelegenen Horkheim aufnehmen - so sieht es zumindest der Katastrophenplan des Landes Baden-Württemberg vor. In Nürtingen selbst herrschte große Ratlosigkeit. Die Evakuierten kommen? Davon hatten die Menschen in der Stadt nichts gewusst.

Spaß-Aktion mit ernstem Hintergrund

Die Spaß-Aktion der Anti-AKW-Aktivisten aus Horkheim hatte einen ernsten Hintergrund: Es gibt sie durchaus, die Katastrophenpläne für den Fall, dass es tatsächlich in AKW zu Unfällen kommen sollte. Details dieser Konzepte sind aber vielen Bürgern völlig unbekannt.

Die Pläne sind auf der Grundlage der "Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen" konzipiert, die von der Innenministerkonferenz abgesegnet worden sind. Für den Ernstfall sehen sie drei Zonen vor.

Art und Umfang der zu treffenden Maßnahmen sind dabei von der Distanz zum AKW abhängig. Die Zentralzone umfasst die kerntechnischen Anlagen bis zu einer Entfernung von 1,5 Kilometer. Daran schließt sich die Mittelzone (bis zu 10 Kilometer vom AKW) an. Die Außenzone schließlich reicht bis hin zu Gemeinden, die bis zu 25 Kilometer vom AKW entfernt sind.

Sirenensignale, Warnhinweise, Sammelplätze für Menschen, die keine PKW haben, Evakuierungsrouten - alles ist geplant. Exakte Regelungen gibt es auch für Jodtabletten, die in der Nähe von AKW an Haushalte verteilt werden, Sie stehen nach Aufruf über den Rundfunk auch in speziellen Ausgabestellen zur Verfügung.

Aber was passiert wirklich, wenn es zum Gau kommen sollte? Funktioniert die geregelte Evakuierung tatsächlich? Viele Menschen, so spekulieren Experten, werden bei einem AKW-Unfall auf eigene Faust versuchen zu entkommen. Ausfallstraßen könnten verstopft sein.

Helfer wiederum, die in Richtung Unglücksschauplatz unterwegs sind, könnten im Stau stecken bleiben. Zu rechnen sei auch mit Menschen, die sich auf der verzweifelten Suche nach Angehörigen in die Katastrophenzone hineinbewegen.

AKW-Gegner äußern immer wieder Zweifel an der Wirksamkeit der Notkonzepte. Beispiel Biblis in Hessen, wo nach den Plänen der Bundesregierung die Atomkraftwerksblöcke A und B zunächst einmal für drei Monate vom Netz gehen sollen. Die vorbereiteten Evakuierungspläne reichen bis zu einer Entfernung von rund 10 Kilometer vom Standort des AKW Biblis entfernt.

Zehn Kilometer - reicht das aus?

"Eine Evakuierung von weiter entfernten Regionen ist mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht zu erwarten", heißt es in der Broschüre des dortigen AKW-Betreibers RWE. Eine Einschätzung, der der Bund Hessen und die Grünen heftig widersprechen.

"Es geht an jeder Realität vorbei anzunehmen, dass sich eine radioaktive Wolke im Fall eines Unfalls lediglich zehn Kilometer ausbreitet. Je nach Windrichtung können Gebiete bis zu 600 Kilometer entfernt betroffen sein. Dafür gibt es zur Zeit keinerlei Evakuierungsszenarien", kritisierten der BUND und die Landtagsfraktion der Grünen.

Das Beispiel Fukushima mit einer Evakuierungszone von 20 Kilometern zeigt, wie bitter die Realität sein kann. Michael Rothkegel vom BUND Hessen zur "Ärzte Zeitung": "Die Notfallpläne suggerieren, AKW-Störfälle seien beherrschbar. Aber sie dienen lediglich dazu, die Leute zu beruhigen. Mehr Sicherheit bringen sie nicht."

Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz

Paragraf 53 Absatz 5 der Strahlenschutzverordnung schreibt vor, dass die Betreiber von Atomkraftwerken verpflichtet sind, die Bevölkerung bei radiologischen Notstandssituationen über Sicherheitsmaßnahmen und das richtige Verhalten bei solchen Ereignissen zu informieren. Das soll in Abstimmung mit den für den Katastrophenschutz zuständigen Behörden erfolgen.

Die von den deutschen Bundesländern gemeinsam erarbeiteten sogenannten "Rahmenempfehlungen für den Katastrophenschutz in der Umgebung kerntechnischer Anlagen" sehen vor, dass der behördliche Katastrophenschutz in abgestuften Maßnahmen organisiert wird. Dabei werden Art und Umfang der schadensbegrenzenden Maßnahmen von der jeweiligen Entfernung zur kerntechnischen Anlage abhängig gemacht. Ziel ist es, die Folgen eines kerntechnischen Unfalls für die Bevölkerung zu minimieren.

www.bfs.de/de/bfs/recht/rsh/bmu

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