Wiederaufbau in Japan

Neustart mit Tücken

Japan drückt im Nordosten beim Wiederaufbau nach der Dreifachkatastrophe von Fukushima vom 11. März 2011 aufs Tempo. Viele Bürger sind verunsichert.

Von Sonja Blaschke Veröffentlicht:

FUKUSHIMA. Versucht die Regierung in Tokio, trotz teils noch bestehender Strahlenexposition die von der Dreifachkatastrophe von Nordostjapan vom 11. März 2011 mit Erdbeben, Tsunami und der Havarie des Atomkraftwerks Fukushima Daiichi betroffenen Gebiete mit Brachialgewalt wieder aufzubauen, koste es, was es wolle?

Gerade hatte die lokale Regierung ein Wäldchen hinter dem früheren Grundstück von Kenichi Hasegawa in dem 6000 Seelen-Dorf Iitate in Fukushima für dekontaminiert erklärt.

Doch der frühere Milchbauer misstraute den Behörden und maß mit Hilfe eines Uniprofessors nach: 26.000 Becquerel pro Kilogramm im Boden, und damit das Dreifache des gesetzlichen Limits in Japan.

"Es ist ganz klar geworden, dass die Regierung die Sache so schnell wie möglich begraben will", sagt Hasegawa mit rauer Stimme vor Journalisten in Tokio. Nicht zuletzt wolle ja Tokio 2020 die Olympischen Spiele ausrichten - was Hasegawa sichtlich missfällt.

Er und seine Mitbürger haben andere Sorgen: "Wir stehen jetzt vor der Entscheidung, ob wir unser Dorf aufgeben, oder doch zurückgehen, obwohl dort viele Orte weiter stark verstrahlt sind."

7000 Arbeiter im Einsatz

Noch heute ist die Strahlung vor allem in der näheren Umgebung des havarierten Meilers so hoch, dass sich Menschen dort nur wenige Minuten aufhalten können. Täglich sind weiter über 7000 Arbeiter im AKW im Einsatz, um eine erneute Eskalation zu verhindern.

Unterdessen stapeln sich rund um das AKW Tausende schwarze Plastiksäcke mit verstrahlter Erde; in Hunderten großen Tanks lagert verstrahltes Wasser, und täglich werden es mehr.

Mehrere Zehntausend Menschen leben, wie Hasegawa, seit der Katastrophe in Übergangswohnungen, die meisten im einfachen Container-Stil. Trotz der hohen Strahlenwerte wolle die Regierung im März 2017 die Evakuierungsanweisung für Iitate aufheben und sogar Schulen wieder öffnen, sagt er.

Dagegen kämpft Hasegawa mit anderen Aktivisten einer Opferorganisation. Seine Mitstreiterin Ruiko Muto sagt, dass die Präfekturregierung von Fukushima lediglich dem folge, was die Zentralregierung vorgebe. Die Zuständigen dort hätten sich geweigert, Vertreter der Organisation zu treffen.Fünf Jahre nach der Katastrophe feierten die Aktivisten einen Teilerfolg.

2012 strengten über 14.000 Menschen, darunter Muto, eine strafrechtliche Klage gegen die Betreiberfirma Tokyo Electric Power (Tepco). Erst vor wenigen Tagen wurden schließlich drei ranghohe Tepco-Manager wegen Verletzung beruflicher Sorgfaltspflichten angeklagt, darunter ein früherer Vorsitzender. Es wird erwartet, dass die Männer ihre Unschuld erklären, und dass sie einen Tsunami in diesem Ausmaß nicht hätten erwarten können. Das Verfahren dürfte sich viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte in die Länge ziehen.

Der Abbau des AKW wird sich noch Jahrzehnte hinziehen. Eines der größten Probleme ist die Tatsache, dass man bis heute nicht genau weiß, wo sich das geschmolzene Brennmaterial seit den Kernschmelzen in drei Reaktoren befindet.

Für den Menschen tödlich hohe Strahlung verhinderte bisher, in den Kern des Rätsels vorzudringen. Wissenschaftler haben nun Methoden entwickelt, um mit Hilfe von Myonen die Reaktoren zu "durchleuchten".

Myonen-Tomographie geplant

Rund 10.000 dieser kosmischen Partikel, die in der Atmosphäre entstehen, sollen pro Quadratmeter in der Minute auf die Erde prasseln. Auf ihrem Weg lassen sich die winzig kleinen Teilchen von fast keiner Materie aufhalten.

Mit einer Ausnahme: Wenn Myonen auf Objekte aus schweren Atomkernen, wie Uran oder Plutonium, treffen, wird ihre Flugbahn abgelenkt oder die Teilchen werden absorbiert. Anhand des jeweiligen Verhaltens können Wissenschaftler auf die Eigenschaften des Objektes schließen.

Erste Versuche ergaben Bilder, die wie Fotos mit starkem Bildrauschen aussehen. Die Forscher lasen daran ab, dass sich im ersten Reaktor kein Brennmaterial mehr befinde, im zweiten wenig bis nichts. Zehnmal genauere Bilder soll eine neue Myonen-Tomographie bringen, deren erster Einsatz für dieses Jahr geplant ist.

Aufgrund der hohen Strahlung in der Gegend um das AKW sehen dort einige Gebiete noch heute so aus wie direkt nach der Katastrophe. Es dauerte lange, bis wenigstens ein Teil der Schäden, die der Tsunami dort verursacht hatte, beseitigt wurde. Von Wiederaufbau kann man dort nicht sprechen.

Anders sieht es in den beiden oberhalb von Fukushima gelegenen Präfekturen Miyagi und Iwate aus. Diese sind nicht von der Strahlung betroffen, aber die Tsunami waren dort noch höher, zum Teil über 20 Meter. Bis zehn Kilometer ins Landesinnere wurden dort Gebiete zerstört.

Fünf Jahre danach sind viele Tsunami-Gebiete nicht wiederzuerkennen. Erdaufschüttungen, gerodete Waldflächen, abgetragene Hügel, hohe Tsunamischutzmauern und eine breite Autobahn auf Stelzen, die die Berge im Hinterland entlang der Küste durchbohrt - sie beginnen, der Region ein völlig neues Gesicht zu geben.

"Müssen jeden Tag lachen"

Auch in diesen Regionen harren noch mehrere Zehntausend Menschen in den engen temporären Siedlungen aus. Andere hatten Glück und konnten bereits in neu gebaute Wohnungen umziehen, wie Yutaka Tabata.

Er lebt in Minamisanriku in der Präfektur Miyagi, einem der damals am stärksten zerstörten Orte. Dort habe man dem Wohnungsbau Vorrang gegeben, eine Tsunamischutzmauer werde erst später gebaut, sagt der Senior; in den meisten Nachbarorten ist es umgekehrt.

Doch mit dem Umzug ging wieder alles von vorne los: Die Menschen mussten sich wieder an eine neue Umgebung und neue Nachbarn gewöhnen. Das fällt vielen schwer, gerade den als scheu geltenden Menschen im Nordosten Japans. Hinzu kommt, dass viele den Tod naher Freunde und Verwandter damals nicht verwunden haben.

Tabatas Mutter sei nach der Katastrophe bettlägerig geworden und mit 99 Jahren "am Schock gestorben", sagt der 70-Jährige. Auch er wurde krank: Tabata zieht seinen Pullover etwas zurück und zeigt die Narbe einer Herzoperation.

Trotzdem zeichnet ihn etwas aus, was man bei wenigen von der Katastrophe Betroffenen dieser Tage sieht: den echten Willen, aus dem Leben unter den Umständen das Beste zu machen. "Man muss den alten Menschen gut zuhören", sagt Tabata. "Sonst denken die ständig ‚Ich will sterben…‘."

Deswegen habe er regelmäßige Treffen in der Wohnanlage ins Leben gerufen. "Dann haben sie etwas, worauf sie sich freuen können." Außerdem legte er ein Gärtchen an und mit dem geernteten Gemüse wird zusammen gekocht.

"Wenn man nur vor dem Fernseher liegt, lebt man nicht lange", sagt Tabata und fügt sein Motto hinzu. "Wir müssen jeden Tag lachen."

Lesen Sie dazu auch: Fünf Jahre Fukushima: Strahlung nicht mehr das Kernproblem Fukushima-Katastrophe: Hat Japan die Zerreißprobe bestanden?

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