Ist Sitzenbleiben pädagogisch sinnlos?

Sitzenbleiben kostet den Steuerzahler mehr als 900 Millionen Euro pro Jahr, bringt aber pädagogisch nichts. Das ist das Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, die beim Deutschen Lehrerverband auf heftigen Widerspruch gestoßen ist.

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GÜTERSLOH (dpa/eb). 931 Millionen Euro im Jahr geben die Bundesländer für "Ehrenrunden" in der Schule aus. Pädagogische Erfolge, weil Schüler das Jahr wiederholen? Fehlanzeige. Das hat Bildungsforscher Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann Stiftung ermittelt.

Die Kostenberechnung umfasst die zusätzlichen Personalausgaben für die Schulen und die Schulverwaltung, den laufenden Sachaufwand sowie die Investitionsausgaben differenziert nach jedem einzelnen Bundesland. Die Studie berücksichtigt dabei auch die unterschiedlichen Verfahren der Zuweisung von Lehrerstellen in den Bundesländern.

Es geht nicht nur ums Geld

Sitzenbleiben gehe nicht nur ins Geld. "Klemm belegt zudem anhand jüngerer Forschung, dass Sitzenbleiben keine Verbesserung der schulischen Leistungen bei den Klassenwiederholern bewirkt", so Dr. Jörg Dräger, Vorstandsmitglied der Bertelsmann Stiftung. "Auch die im Klassenverbund verbliebenen Schüler haben offenkundig nichts davon, dass die Schwächeren nicht versetzt und die Leistungsfähigkeit in der Klasse dadurch homogener wird."

"Die Studie macht deutlich, dass wir auf unnötige Klassenwiederholungen verzichten sollten. Klassenwiederholungen sind keine Lösung. Statt einer frühen schülerorientierten Förderung verschieben wir den Zeitpunkt wirksamer Unterstützung und verpassen ihn dabei", so Dräger weiter. "Klassenwiederholungen sollten eine Ausnahme beispielsweise für den Fall langwieriger Erkrankungen sein."

Die knappe Milliarde Euro, die das Sitzenbleiben jährlich koste, könne erheblich besser investiert werden, sagte Dräger, der für die Bildungsprojekte der Stiftung verantwortlich ist. Viel sinnvoller sei es, mit dem Geld die individuelle Förderung an den Schulen voran zu bringen: "Jeder Schüler lernt anders. Dieser Tatsache müssen wir stärker in unseren Schulen Rechnung tragen und Konzepte zur individuellen Förderung entwickeln. Andere Länder sind auf diese Weise bei der Bildung erfolgreicher als wir."

Laut der Studie mussten im Schuljahr 2007/08 etwa eine Viertelmillion Schüler allgemeinbildender Schulen eine Klasse wiederholen. Zwischen den Ländern gab es große Unterschiede. Während sich die Wiederholerquote beispielsweise in Baden-Württemberg auf 1,7 Prozent belief, waren es in Bayern 3,6 Prozent. Auch zwischen den Schularten gab es demnach eine erhebliche Spannweite: In den Grundschulen lag die Wiederholerquote bei 1,3 Prozent, in den Realschulen hingegen bei 5,0 Prozent. Insgesamt wird der PISA-Studie von 2003 zufolge in keinem anderen Land vom Sitzenbleiben so häufig Gebrauch gemacht wie in Deutschland, wie die Stiftung bei der Mitteilung in Erinnerung brachte. Demnach haben 23,1 Prozent der 15-Jährigen im Laufe der Schulzeit schon mindestens einmal eine Klasse wiederholt.

Der deutsche Lehrerverband lehnt indes eine Abschaffung des Sitzenbleibens entschieden ab. Verbandspräsident Josef Kraus: "Die Forderung nach Abschaffung des Sitzenbleibens ist pädagogischer Unsinn." Kraus zur Begründung: "Für Schüler, die am Ende des Schuljahres in mehreren Kernfächern mangelhafte Leistungen haben, wäre ein Aufstieg in die nächste Klasse eine krasse Fehlinvestition für die ganze Gesellschaft."

Für diese Schüler sei nämlich das Wiederholen eine Chance zur Konsolidierung. Diese Chance dürfe man ihnen nicht nehmen. Kraus: "Gäbe es gar kein Durchfallen mehr, würde sich ein noch größerer Anteil von Schülern überhaupt nicht mehr anstrengen wollen, und das Leistungsniveau vieler Klassen würde sinken. Eine Abschaffung des Sitzenbleibens käme einem Recht auf Wohlfühlschule mit Abiturvollkaskoanspruch gleich."

Ein fester Bestandteil des deutschen Schulsystems

Sitzenbleiben ist in den Köpfen vieler Eltern und Lehrkräfte nach wie vor ein fester Bestandteil des deutschen Schulsystems. Nach einer FORSA-Umfrage aus dem Jahr 2006 schätzen 66 Prozent der Deutschen das Sitzenbleiben als sinnvoll ein und wollen es als pädagogische Maßnahme beibehalten.

Eine Abkehr von dem Instrument der Klassenwiederholung ist also noch nicht in Sicht, auch wenn in einzelnen Bundesländern und Schulen durchaus ein Umdenken eingesetzt hat.

Dass Sitzenbleiben wirkungslos sei, sei aber offenkundig noch nicht angekommen, so Dräger: "Das muss sich ändern, denn wir gehen weder mit der Lebenszeit und dem Entwicklungspotenzial der Kinder noch mit den öffentlichen Mitteln verantwortungsvoll um", sagt er.

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