Schule in Frankfurt

Vokabeln lernen am Krankenbett

Wer krank ist, muss nicht zur Schule - doch wer an einer schweren Krankheit leidet, verliert schnell den Anschluss. Eine Schule in Frankfurt unterstützt Kinder beim Lernen, wenn sie in einer Tagesklinik versorgt oder lange im Krankenhaus liegen müssen.

Von Pete Smith Veröffentlicht:
Yasin muss drei Mal pro Woche zur Dialyse. Sein Lehrer Axel Janz-Peters hilft ihm bei den Hausaufgaben. Yasin will bald zurück auf den Fußballplatz und Abi machen.

Yasin muss drei Mal pro Woche zur Dialyse. Sein Lehrer Axel Janz-Peters hilft ihm bei den Hausaufgaben. Yasin will bald zurück auf den Fußballplatz und Abi machen.

© Smith

"Englisch lernen ist nicht so meins", sagt René, "im Vokabeln Lernen bin ich 'ne Niete." Dafür ist der 14-Jährige ein Genie in der Kunst des Papierfaltens. "Origami kann ich in 80 Schritten auswendig."

René präsentiert eine perfekte Origami-Version der "Star Wars"-Legende Meister Yoda mit spitzen Ohren, braunem Umhang, Gehstock und filigranen Fingern. "Aus einem Blatt Papier gefaltet. In 20 Minuten."

René ist Schüler der Heinrich-Hoffmann-Schule für Kranke in Frankfurt am Main. Der Unterricht macht ihm Spaß. "Hier bekommt man mehr erklärt", sagt er, "in großen Gruppen komme ich nicht so gut klar."

René hat das Asperger-Syndrom. Als Patient der Kinder- und Jugendpsychiatrie erhält er von Montag bis Freitag jeden Tag zwei bis drei Stunden Einzel- oder Kleingruppenunterricht. Sein Lieblingsfach ist Mathematik. Derzeit lernt er Dreisatz und proportionale Zuordnung.

"Wichtig sind Erfolgserlebnisse"

"Im Einzelunterricht", sagt sein Mathe-Lehrer Mark Altenbach, "bekomme ich viel eher mit, wo der Schüler gerade steht." So kann er gleich auf dessen individuelle Bedürfnisse eingehen.

"Wichtig sind die Erfolgserlebnisse", ergänzt Renés Englischlehrerin Helena Hackenberg, die auf Wunsch ihres Schülers auch mal im Internet nach einer Origami-Anleitung fahndet.

"Die Anleitung von Meister Yoda war auf Spanisch", sagt René. Eine Lehrerin hat sie für ihn übersetzt, jetzt kann er sie auswendig.

Die Heinrich-Hoffmann-Schule ist eine staatliche Schule, in der Kinder und Jugendliche unterrichtet werden, die ihre Stammschule aufgrund einer ernsten Erkrankung über einen längeren Zeitraum nicht besuchen können.

Beispielsweise wegen einer komplizierten Fraktur, Hüftdysplasie oder Skoliose, einer Stoffwechselstörung, Mukoviszidose, Sichelzellenanämie oder Pankreatitis, einem Tumor oder Herzfehler, einer Nieren- oder Autoimmunerkrankung, einer Entwicklungsauffälligkeit oder einer Störung des Sozialverhaltens.

Unterrichtet werden Kinder und Jugendliche aller Jahrgangsstufen und Schulformen. Entweder am Krankenbett, in Schulräumen der Klinik oder daheim.

Vorrangiges Ziel des Unterrichts ist, dass die Patienten den Anschluss an ihre Klasse halten. Mitunter absolvieren sie in der Klinik sogar ihren Abschluss.

Schnelle Lernerfolge sind möglich

Heinrich-Hoffmann-Schule

Heinrich-Hoffmann-Schule (Schule für Kranke), Marienburgstraße 4, 60528 Frankfurt am Main, Telefon 069/6705-9800, Fax 069/6705-9801, E-Mail: poststelle.heinrich-hoffmann-schule@stadt-frankfurt.de, www.heinrich-hoffmann-schule.de

Angeschlossen ist ein überregionales Beratungs- und Förderzentrum, das Eltern und Lehrer zu Autismus, Absentismus, Schule und Gesundheit sowie zu Fragen rund um die Schullaufbahn berät.

Etwa die Hälfte der Schüler kommen aus dem psychiatrischen Bereich - Kinder und Jugendliche mit Tics, Depressionen, Zwangs-, Angst- oder Essstörungen, Autismus, Mutismus, ADHS oder suizidaler Gefährdung. Die meisten befinden sich auf einer Akut- oder Jugendstation, andere, wie etwa René, werden in der Tagesklinik behandelt und können ab 16 Uhr nach Hause.

Da die Schüler mobil sind, werden sie in der Regel in den Klassenzimmern der Heinrich-Hoffmann-Schule unterrichtet, die ihre Zentrale in der Orthopädischen Universitätsklinik "Friedrichsheim" hat.

"Der Unterricht hier macht mir richtig Spaß", sagt Patrick, der an seiner alten Schule gemobbt wurde und den Unterricht daher häufig geschwänzt hat. "Hier kann ich fragen, wenn ich etwas nicht verstehe, und werde nicht angeschrien, weil ich nicht aufgepasst habe."

Der 13-Jährige ist ebenfalls Patient der psychiatrischen Tagesklinik und wird derzeit allein unterrichtet, da drei seiner Mitschüler kurzfristig entlassen wurden.

Einzelunterricht hat Vor- und Nachteile. "Man kann sich nicht durchlavieren", sagt Helena Hackenberg, "das gefällt einigen gar nicht." Auf der anderen Seite stellen sich durch die intensive Betreuung schneller Lernerfolge ein.

"Wir gucken, was die Schüler können, und betonen nicht, was sie nicht können", sagt die Englich-Lehrerin. Ihr Kollege Mark Altenbach bemüht sich, nicht immer so genau hinzusehen. "Zwischendurch raschele ich auch mal mit den Blättern, damit Patrick nicht das Gefühl hat, dass ich ihn ständig beobachte."

Schulamt stellt Pädagogen

50 Jahre existiert die nach dem Frankfurter Psychiater und "Struwwelpeter"-Autor Heinrich Hoffmann benannte Schule. Während der Unterricht in den Anfangsjahren auf das ehrenamtliche Engagement pensionierter Pädagogen gründete, stellt heute das staatliche Schulamt die Pädagogen.

Derzeit werden an zwölf verschiedenen Orten in Frankfurt rund 240 Kinder unterrichtet, vor allem in Deutsch, Mathematik und Fremdsprachen, aber auch in Nebenfächern wie Sachkunde, Gesellschaftslehre, Naturwissenschaften oder Kunst. Das Kollegium der Heinrich-Hoffmann-Schule umfasst 40 Lehrer. Von ihnen wird ein breites Fachwissen, aber auch Flexibilität, Empathie und Kreativität verlangt.

Täglich müssen sie sich auf neue Schüler einstellen, deren individuellen Förderbedarf ermitteln, Ängste ernst nehmen und deren Vertrauen gewinnen.

Sie müssen sich regelmäßig mit den behandelnden Ärzten, Lehrern der Stammschulen und den Eltern der Schüler abstimmen, die Leistungen ihrer Schützlinge dokumentieren und bewerten, ihre Wiedereingliederung in die Stammschule vorbereiten oder bei Bedarf auf einen Schulwechsel hinwirken. Nicht zuletzt müssen die Pädagogen auch mit Leid, Tod und Trauer umgehen lernen, eine Herausforderung, der sie sich täglich aufs Neue stellen.

"Schule bedeutet Zukunft", sagt Dr. Frank Pastorek, der die Heinrich-Hoffmann-Schule für Kranke seit elf Jahren leitet. Auf die bedrohliche Situation einer Erkrankung reagierten viele Patienten mit Angst oder Apathie, Ablehnung und Verweigerung.

Der Unterricht am Krankenbett schaffe ein Stück weit Normalität. Viele junge Patienten schöpfen daraus Kraft und Mut, weil sie sehen, dass das Leben weitergeht. Im Erfolg wächst ihr Glaube, dass sie ihren Alltag trotz ihrer Erkrankung meistern können.

Yasin, Schüler der IGS Heinrich von Brentano in Hochheim am Main, muss dreimal pro Woche für je vier Stunden an die Dialyse.

Was der 14-Jährige an Stoff verpasst, gleicht er mithilfe seiner Lehrer an der Heinrich-Hoffmann-Schule in Frankfurt aus. Axel Janz-Peters unterrichtet ihn vor allem in Mathe und Arbeitslehre.

Abitur - und dann Medizin studieren

In der Kinderdialyse des Kuratoriums Heimdialyse, angeschlossen am Clementine-Kinderhospital, setzt er sich zu Yasin und den anderen Schülern ans Bett und hilft ihnen bei den Hausarbeiten.

Yasin sei ein sehr engagierter Schüler, sagt Janz-Peters, der in all den Monaten, seit er ihn unterrichtet, seine Noten gehalten habe. "Der will das einfach."

Yasin nickt müde. Ihn nervt am meisten, dass er nachmittags keine Zeit mehr für den Sport hat. Fußball ist sein Leben. Wenn er eine Spenderniere erhielte, könnte er wieder normal trainieren. Aber auch ohne will er in jedem Fall sein Abitur machen. "Und dann Medizin studieren", sagt er. "Am liebsten würde ich Stationsarzt."

"Unser Ziel ist, dass die Kinder da weiter machen können, wo sie zu Beginn ihrer Erkrankung aufgehört haben", sagt Frank Pastorek. "Aber das ist nicht immer möglich." Kinder mit Hirntumor beispielsweise würden in der Regel wieder gesund, behielten aber oft Beeinträchtigungen zurück.

"Manche sind dann nicht mehr in der Lage, verbal zu kommunizieren und sind auf Spracherkennungssysteme angewiesen."

Daher bildeten sich die Mitglieder seines Kollegiums regelmäßig fort. Die Grundlagen einer Pädagogik bei Krankheit lehrt der 60-jährige Sonderpädagoge in speziellen Kursen der Frankfurter Universität. Das Thema, wünscht sich Pastorek, sollte Standard in der Lehrerausbildung sein.

"Wenn ein Kind nach einem Klinikaufenthalt aufgedunsen, mit Glatze oder ohne Bein in seine Stammschule zurückkehrt, sollten die Lehrer seine Klassenkameraden darauf vorbereitet haben."

Die Arbeit mit kranken Kindern habe auch ihn im Laufe der Jahre verändert, so Pastorek. "Sie hat mich gelehrt, demütiger zu sein und die eigenen Probleme zu relativieren. Wir fühlen uns Kindern oft überlegen, dabei können wir von ihrer Stärke alle lernen."

Konrektorin Birgit Neitzel-Gehrig kann das nur bestätigen. "Die Kinder geben uns ganz viel zurück", sagt sie. "Allein zu beobachten, wie sie wieder Fuß fassen, macht glücklich.

Lesen Sie dazu auch: Kranke Schüler: Per Video-Konferenz ins Klassenzimmer

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