Schulformen

Neuer Stoff im alten Streit

Dreigliedriges Schulsystem oder Gesamtschule und Gymnasium? Generationen von Schülern sind Verfügungsmasse von Bildungsreformen gewesen. Umstritten bis heute ist die Frage, wie selektiv oder wie durchlässig die 16 Schulsysteme sind.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Durch die Wahl der Schulform entscheiden sich Lebenswege - oder nicht?

Durch die Wahl der Schulform entscheiden sich Lebenswege - oder nicht?

© Jan Jansen / Fotolia.com

NEU-ISENBURG. Sie gehört zu den Urfragen, die seit Jahrzehnten Bildungspolitiker, Eltern und Schüler bewegt: Wie chancengerecht, wie durchlässig sind die 16 Schulsysteme in Deutschland?

Die Antwort auf diese Frage ruft seit Jahren Wissenschaftler auf den Plan, die in Studien Belege für oder gegen die Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems finden.

Für Aufsehen sorgt eine neue Untersuchung des Bonner Instituts zur Zukunft der Arbeit (IZA). Drei Wirtschaftsprofessoren widersprechen in ihrer Studie der Kritik, das mehrgliedrige Schulsystem verteile Schüler zu früh auf unterschiedliche Schulformen und schränke dadurch Bildungschancen von Spätentwicklern ein.

Untersucht wurden dabei Zensus- und Sozialversicherungsdaten der Geburtsjahrgänge 1961 bis 1976 (IZA DP No. 7897).

Die Autoren konnten durchschnittlich keine Unterschiede bei durchschnittlich erzielten Bildungsabschlüssen, Beschäftigungsquote und Erwerbseinkommen zwischen den beiden Schülergruppen finden. Grund sei die hohe Durchlässigkeit des Schulsystems.

Die Sorge vieler Eltern, die Zukunft ihres Kindes sei von der Wahl der Schulform abhängig, erweise sich als unbegründet, so die Autoren. Ob das Studiendesign scharfe Schlussfolgerungen tatsächlich rechtfertigt - die untersuchten Schuljahrgänge stammen noch aus einer Zeit eines funktionierenden dreigliedrigen Schulsystems - interessiert im bildungspolitischen Nahkampf wenig.

Die Beweislast der Studie sei so "erdrückend", meint Timm Kern, bildungspolitischer Sprecher der FDP-Landtagsfraktion in Baden-Württemberg, dass das "bildungspolitische Gebäude von Grün-Rot in sich zusammenfallen müsste wie ein Kartenhaus".

Die Landesregierung setze einseitig auf die Gesamtschule und "demontiere" damit die Schularten, die "sozialen Aufstieg" im Ländle ermöglicht haben, glaubt Kern.

Unterschiedliche Chancen je nach Wohnort

Es gehört zu den Eigenheiten der Bildungspolitik, dass für jede Position auch eine Studie mit gegenläufiger Argumentation vorliegt. Expertisen, in denen die mangelnde Durchlässigkeit des deutschen Schulsystems behandelt wird, füllen Regalmeter.

Noch Mitte vergangenen Jahres hat der "Chancenspiegel", ein gemeinsames Projekt von Bertelsmann-Stiftung und den Universitäten Dortmund und Jena, die geringen Fortschritte in der Chancengerechtigkeit im Bildungssystem moniert.

Auf einen Wechsel von einer niedrigen auf eine höhere Schulart kämen 4,2 Wechsel in die umgekehrte Richtung, heißt es in der Untersuchung. Bei der letzten Untersuchung zum Schuljahr 2009/2010 betrug das Verhältnis von Auf- und Abstieg noch 1 zu 4,3. Bei der Chancengerechtigkeit gehe es nur "im Schneckentempo voran", sagte Jörg Dräger, Vorstand der Bertelsmann-Stiftung.

Die Schulsysteme der einzelnen Bundesländer hätten jeweils Stärken und Schwächen, erläutert Professor Wilfried Bos, Direktor des Instituts für Schulentwicklungsforschung an der TU Dortmund - und alle hätten "Nachholbedarf".

Je nach Wohnort variieren die Chancen der Schüler: In Nordrhein-Westfalen erreichen 59 Prozent der Schüler die Berechtigung zu studieren, in Sachsen-Anhalt 37 Prozent.

Auf einen Pennäler, der in der Schulform "aufsteigt", kommen in Brandenburg 1,8 "Absteiger", in Bremen sind es hingegen neun. In Mecklenburg-Vorpommern brechen 13,3 Prozent eines Jahrgangs die Schule ab, im Saarland nur 4,8 Prozent.

Schulerfolg in Abhängigkeit von der Postleitzahl? In den Grabenkämpfen von Bildungspolitikern wird jede Studie für die je eigenen Zwecke verwendet.

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Josef Kraus, sieht mit der IZA-Untersuchung als widerlegt an, "was sich aufgrund eigenwilliger Interpretationen etwa der OECD und der Bertelsmann-Stiftung seit Jahren in den Köpfen (...) festgesetzt hat". Es gebe in Deutschland "keinen Bildungsabschluss ohne einen Bildungsanschluss", glaubt er.

Der Streit um den richtigen Weg zur "Bildungsrepublik Deutschland" wird noch weitere Schülergenerationen zum Objekt nicht enden wollender Schulstrukturdebatten machen.

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