Leitartikel

Das Burn-out-Dilemma der Lehrer

Jeder dritte Lehrer leidet unter der hohen psychischen Belastung in der Schule, zeigt ein Gutachten. Nur: Liegt das an den ungezogenen Schülern oder eher daran, dass viele Pädagogen für ihren Beruf ungeeinget sind?

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Überfordert: Der Umgang mit Kindern und Jugendlichen wird häufig zu spät geübt.

Überfordert: Der Umgang mit Kindern und Jugendlichen wird häufig zu spät geübt.

© Woodapple / fotolia.com

Die Szene spielte an einem Gymnasium in einer süddeutschen Kleinstadt: Der Referendar versuchte verzweifelt, so etwas wie Unterricht zu simulieren. Davon bekam die zweite Reihe schon nichts mehr mit, denn dort wurde verbissen um ein paar Coladosen Karten gespielt, in der dritten Reihe erledigten einige die Hausaufgaben für die nächste Stunde und in der vierten ging es wieder mal lautstark um den Kneipenbesuch am Vorabend.

Irgendwann ignorierten alle den Lehrkörper, der Lärmpegel stieg auf Pausenniveau, und plötzlich rannte der angehende Pädagoge heulend aus dem Klassenzimmer.

Das war vor über 30 Jahren, Burn-out war noch kein Thema, aber es gab damals schon genügend Lehrer, die berufsunfähig waren, bevor sie mit dem Beruf begonnen hatten. Man darf getrost davon ausgehen, dass sich solche Szenen auch heute täglich in deutschen Klassenzimmern ereignen, und viele von uns können sich wohl selbst an Situationen erinnern, in denen sie als Schüler unbedarfte Lehramtsanwärter in den Wahnsinn trieben.

Es ist ganz gut, über solche Ereignisse nachzudenken, wenn wieder einmal über das harte Schicksal der Lehrkräfte an deutschen Schulen lamentiert wird und ein aktuelles Gutachten feststellt, dass ein Drittel der Pädagogen unter der hohen Belastung im Beruf leidet. Nur: Liegt das an den unkontrollierbaren Schülern oder eher an dem hohen Anteil von Pädagogen, die ihren Beruf verfehlt haben?

Die Hälfte der Lehrer hält sich selbst für ungeeignet

In seinem lesenswerten Beitrag "Gescheitert, aber unkündbar" erhebt der Buchautor und Bildungsexperte Christian Füller in der "Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung" den Vorwurf, dass nicht zuletzt die Aussicht auf eine Verbeamtung die falschen Leute an die Schulen locke.

"Manche Lehrer haben ihren Beruf schlicht aus Verlegenheit gewählt. Viele zieht es ins Lehramt, weil sie mit ihren Noten woanders kaum landen", wird der Schulforscher Professor Norbert Seibert in dem Beitrag zitiert.

Und der Frankfurter Bildungsexperte Professor Udo Rauin verweist auf eine Umfrage unter Studenten, wonach sich die Hälfte der angehenden Lehrer selbst als ungeeignet für den Beruf einschätzt.

Kein Wunder, dass viele von ihnen resignieren, krank werden und nicht in der Lage sind, die Erwartungen von Schülern und Eltern zu erfüllen, wenn sie mit der Realität konfrontiert werden. Doch sind sie erst einmal verbeamtet, kann man solche Fehlentwicklungen kaum noch korrigieren.

"In jedem Beruf gibt es Leute, die versagen. Man kann sie versetzen oder entlassen. Es sei denn, sie sind beamtete Lehrer. Dann machen sie Generationen von Schülern platt", lästert Füller.

Burn-out ist ein moderner Tapferkeitsorden

Wenn also von Burn-out bei Lehrern die Rede ist, besteht der Verdacht, dass damit ein gewisses Versagen kaschiert werden soll: Burn-out ist immer eine gute Entschuldigung. Das klingt nach Einsatz, Engagement, nach Leistung. Da hat jemand völlig uneigennützig so viel gegeben, dass er jetzt ausgeblutet ist.

Burn-out ist auch ein moderner Tapferkeitsorden, den man sich stolz ans Revers heften kann. Schulforscher Rauin hat dafür jedoch nur Spott übrig: "Die über besondere Belastung Klagenden haben vermutlich nie gebrannt", sagt er in Füllers Beitrag.

Es wäre jedoch zu kurz gegriffen, nur den Lehrern die Schuld in die Schuhe zu schieben. Tragisch ist auch die miserable Vorbereitung auf den Lehrerberuf.

Unverständlich bleibt, weshalb Lehramtsstudenten für Gymnasien noch immer primär Fachwissen pauken, statt zu lernen, wie sie pubertierende Teenager für den Unterricht begeistern oder was sie tun können, um nicht von der Klasse an die Wand gespielt zu werden.

Konflikte sind kein Thema an den Universitäten

Die vielen Konflikte, die auf Lehrer in der Praxis warten, sind in der Regel kein Thema an den Universitäten. Wer dann nach ein bis zwei Jahren Studium das erste Mal die Chance hat, sich in einem längeren Praktikum zu bewähren, bringt oft nicht mehr den Mut auf, seine Berufsentscheidung zu revidieren, falls ihm klar wird, dass sie falsch war.

Auf der anderen Seite muss man feststellen, dass die Belastung im Beruf tatsächlich gestiegen ist. Eltern, die ihre Kinder selbst nicht mehr erziehen, aber jede Entscheidung des Lehrers mit Argusaugen überprüfen, können die Pädagogen ebenso terrorisieren wie ihr ungezogener Nachwuchs. Davon können selbst solche Lehrer ein Lied singen, denen ihr Beruf eigentlich Spaß macht.

Doch entscheidend ist ein anderer Punkt: Die Eltern lassen sich nicht ändern. Auch nicht das, was sie zuhause mit ihren Kindern tun oder vielmehr nicht tun. Umso wichtiger ist es, dass die Schulen Lehrer einstellen, die den gestiegenen Anforderungen gewachsen sind.

Umso wichtiger ist es, dass die Lehrer auf diese Anforderungen hin ausgebildet werden, entscheidend sind auch richtige Anreize für den Lehrerberuf: ein angemessenes Gehalt statt Beamtenstatus und die Möglichkeit der Schulen, Lehrer selbst einzustellen und auch zu kündigen. All das könnte die Burn-out-Rate unter Pädagogen drastisch senken.

Der Vorsitzende des Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, fordert denn auch eine Reform der Lehrerausbildung. Er hätte am liebsten eine Art Assessment Center, das Lehramtsstudenten aussiebt sowie mehr studienbegleitende Praktika. Damit sollte man endlich beginnen, sonst werden auch in 30 Jahren noch jeden Tag Referendare heulend aus ihren Klassen rennen.

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