Extremsport

Kalkulierter Wahnsinn

Man muss schon etwas verrückt sein, um von Italien ans Nordkap zu rennen oder um mit einem Wingsuit durch eine Felsspalte zu rauschen. Aber letztlich unterscheiden sich Extremsportler psychisch nicht so sehr von anderen Menschen - die meisten wissen genau, was sie tun.

Von Thomas Müller Veröffentlicht:
Professionelle Hochrisikosportler wie Basejumper sind sich der Gefahren durchaus bewusst.

Professionelle Hochrisikosportler wie Basejumper sind sich der Gefahren durchaus bewusst.

© morozena / iStock

BERLIN. Ist Uli Emanuele völlig durchgeknallt? Der 29-jährige Südtiroler hat im Juli einen der waghalsigsten Basejumps riskiert.

Mit einem Wingsuit, einer Art Fledermauskostüm, das beim Sturz aus großer Höhe einen rasanten Gleitflug ermöglicht, ist er mit über 100 Stundenkilometern durch eine nur zwei Meter breite Felsspalte gerast.

Eine falsche Bewegung, ein unpassender Windstoß, und es wäre nicht viel von ihm übrig geblieben.

Viele halten Hochrisikosportler wie Emanuele für lebensmüde und eher wahnsinnig als waghalsig. Doch das stimmt nicht. Der Wahnsinn hat in diesem Fall Kalkül.

Basejumper wie Emanuele sind genauso wenig verrückt wie die meisten von uns. Ganz im Gegenteil: Sie lassen sich von Risiken nicht verrückt machen, sie versuchen, sie zu beherrschen.

Der Gefahr bewusst

Professionelle Hochrisikosportler sind sich der Gefahren durchaus bewusst, sagte der Sportpsychologe Professor Martin Kopp von der Universität Innsbruck beim DGPPN-Kongress in Berlin.

Sie wissen, dass ein kleiner Fehler tödlich ist, sie leugnen das Verletzungsrisiko nicht und sie zeigen auch keinen unrealistischen Optimismus, nach dem Motto "mir kann das aber nicht passieren", so Kopp. Darauf deuteten neuere Untersuchungen.

In der Vergangenheit hatten Psychologen bei Extrem- und Hochrisikosportlern häufig einen Mangel an empfundener Verletzbarkeit sowie ein überhöhtes Selbstvertrauen und eine gesteigerte Zuversicht vermutet. Als Motivation wurde oft nur der Nervenkitzel, das "Sensation Seeking" gesehen.

Doch mittlerweile ergibt sich ein weitaus komplexeres Bild, das auch die Steigerung des Selbstwerts und des Identitätsgefühls berücksichtigt. Risikosport kann zudem als Alleinstellungsmerkmal verstanden werden und als Wunsch, aus einem überzivilisierten Leben voller Langweile und Leere auszubrechen.

Nicht zu unterschätzen sind dabei die sozialen Medien: Die modernen Helden finden ihr Publikum über Videos auf Youtube und Facebook - die Helmkamera ist längst zu einem unverzichtbaren Accessoire in der Szene geworden.

Diese Form der Selbstdarstellung, so Kopp, ist heute oft wichtiger als der Nervenkitzel. Das nachfolgende Video von Emanueles Flug wurde mehr als fünf Millionen Mal geklickt:

Video

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Veröffentlicht: 15.01.2016

Eher Perfektionisten als Hasardeure

Von ihrer Persönlichkeit her sind Hochrisikosportler aber eher Perfektionisten und weniger Hasardeure.

Emanuele hat drei Jahre für seinen Sprung trainiert, ist immer wieder zur Felsspalte hochgeklettert, hat sie genau vermessen, hat den Anflug aus verschiedenen Richtungen und Winkeln probiert, den Durchflugsversuch im letzten Augenblick mehrfach abgebrochen, bis irgendwann alles stimmte und er das Abenteuer wagen konnte.

"Solche Personen schätzen das Risiko durch ihr Training und ihr Können anders ein." Kopp plädierte daher für eine vorurteilsfreie Betrachtung von Risikosportlern.

"Es gibt Leute, die wollen das machen und können es nach gutem Training auch."

Eine Möglichkeit, das Risikoverhalten von Sportlern zu studieren, bieten jeden Winter auch die alpinen Skipisten. Hier sind es vor allem junge Männer, die weitgehend ungebremst ins Tal schießen.

Die Wintersportler mit dem riskantesten Fahrstil sind in der Regel auch diejenigen, die ihre Fähigkeiten als hervorragend einschätzen, haben Kopp und sein Team in Feldforschungen herausgefunden.

Dies legt die Vermutung nahe, dass Wintersportler eine Art Risiko-Homöostase aufrechterhalten: Steigt ihr Können, fahren sie riskanter, sodass das persönliche Risiko stets konstant bleibt.

Nach diesem Modell müssten Skihelme einen riskanteren Fahrstil begünstigen, um das reduzierte Verletzungsrisiko wieder auszugleichen. Dafür, so Kopp, sprechen insgesamt weder die Unfallstatistiken noch die eigenen Befragungen.

Bei Letzteren gab nur ein Viertel an, mit Helm schneller oder riskanter zu fahren als zuvor. Bei solchen Personen konnten die Psychologen ein stark ausgeprägtes "Sensation Seeking" feststellen.

Ein Teil der Sportler betreibt also tatsächlich eine Risikokompensation, um den Nervenkitzel konstant zu halten, die Mehrheit aber nicht.

"Flow-Erleben" ist von zentraler Bedeutung

Zu einer anderen Gruppe von Extremsportlern gehören Menschen wie der griechische Ultramarathonläufer Yiannis Kouros. Er schafft in sechs Tagen zu Fuß 1030 Kilometer. Das sind täglich über 170 Kilometer oder etwas mehr als vier Marathonstrecken.

Hier ist das "Flow-Erleben", das reflexionsfreie, gänzliche Aufgehen in einer Tätigkeit mit hoher Beanspruchung, von zentraler Bedeutung, ebenso das Herangehen und Überwinden von Leistungsgrenzen.

Auch die Beherrschung des eigenen Körpers ist entscheidend: "Wenn andere Menschen müde werden, geben sie auf. Ich übernehme mit meinen Geist die Kontrolle über meinen Körper. Ich sag ihm, er ist nicht müde, und er gehorcht", wird Kouros zitiert. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob das für den Köper noch gesund ist.

Doch offenbar gehen die meisten der Extrem-Ausdauersportler genauso professionell vor wie Hochrisikoathleten: Durch hartes Training schaffen sie selbst unmenschlich anmutende Strecken in der Regel ohne bleibende Schäden.

Darauf deutet eine Untersuchung von mehr als 30 Probanden beim Transeurope Footrace im Jahr 2009. Bei diesem Rennen liefen die Sportler ohne einen Tag Pause in zwei Monaten von Bari an der Adria ans Nordkap- im Schnitt 70 Kilometer am Tag.

Gut trainierte Leidensfähigkeit

Bei diesem Rennen hat der Körper praktisch kaum eine Chance, sich adäquat zu erholen. Auch das Gehirn zeigte in gewissen Bereichen Volumenreduktionen, wie Aufnahmen in einem mitgeführten 1,5 Tesla MRT-Scanner ergaben.

Einige Zeit nach dem Rennen ließen sich jedoch keine Auffälligkeiten mehr nachweisen, erläuterte Professor Andreas Ströhle von der Charité Berlin.

Allerdings scheinen Ultramarathonläufer deutlich weniger schmerzempfindlich zu sein. In einem Test konnten sie ihre Hand dreimal so lange in Eiswasser baden wie ungeübte Personen. Offenbar lässt sich auch die Leidensfähigkeit gut trainieren.

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