Paralympics

Beeindruckende Leistungen, aber auch viele Widersprüche

Am Sonntag gehen die Weltspiele der Behinderten in Rio de Janeiro zu Ende – mit spektakulärem Sport, doch nicht ohne Schattenseiten.

Christoph FuhrVon Christoph Fuhr Veröffentlicht:
Kugelstoßer Daniel Scheil gewinnt Gold für Deutschland.

Kugelstoßer Daniel Scheil gewinnt Gold für Deutschland.

© Axel Kohring / Beautiful Sports/dpa

Das hätte sich Niko Kappel niemals träumen lassen: Der kleinwüchsige Mann mit dem Spitznamen "Bonsai" holt bei den Paralympics die Goldmedaille im Kugelstoßen. Mit unglaublicher Präzision wuchtet er das runde Sportgerät aus dem Ring. 13,57 Meter stehen am Ende auf der Anzeigentafel.

Welt- und Europameister Bartosz Tyszkowski aus Polen muss sich mit einem Zentimeter Rückstand knapp geschlagen geben.

Bonsai – wie der Baum, so wird der 1,40 Meter große Kappel genannt, und er liefert dafür eine exakte Begründung: "Weil ich ein kleiner Mann bin und für einen kleinen Mann so viel Kraft habe."

Der Mann aus Baden-Württemberg ist erst 21 Jahre alt, ausgebildeter Bankkaufmann, sitzt für die CDU im Gemeinderat seiner Heimatstadt Welzheim bei Stuttgart – und ist motiviert bis in die Knochenspitzen, um als Leichtathlet weiter Topleistungen zu bringen.

Kappel ist nicht der einzige deutsche Kugelstoßer, der bei den Paralympics ganz oben auf dem Treppchen steht: Teamkollege Daniel Scheil aus Weiden siegt mit 11,03 – allerdings in einer völlig anderen Schadenklasse. Scheil (43) leidet an einer spastischen Tetraperese und sitzt seit 2010 im Rollstuhl.

Fragwürdige Schadensklassen

Unterschiedliche Schadensklassen – nur mit dieser Differenzierung können am Ende faire Ergebnisse erzielt werden. Das ist im Behindertensport Detail, aber nicht immer ganz einfach, denn eine vollständige Vergleichbarkeit kann es wegen der notwendigen Klassengrenzen nicht geben.

Betroffene Athleten und Experten kritisieren, dass bei einzelnen Wettbewerben strukturell unvergleichbare Behinderungsformen zusammengeführt werden. Wenn etwa Sportler mit einer Cerebralparese und Athleten mit einer Körperbehinderung wie Amputation oder Lähmung zusammen an den Start gehen, ist das mehr als fragwürdig.

Die entscheidendende Frage: Ist ein Sportler deshalb erfolgreich, weil er hart gearbeitet und effizient trainiert hat, oder dominiert er den Wettbewerb nur deshalb, weil seine Behinderung im Vergleich zu den Gegnern weniger stark ausgeprägt ist? Ein Thema, das in Rio immer wieder diskutiert wurde.

Nicht minder relevant: Doping, der Dauerbrenner. Zur Erinnerung: Die russische Mannschaft war wegen massiver Doping-Enthüllungen in dem Land komplett von den Paralympics ausgeschlossen worden. Zur Entspannung der Situation in Rio hat das allerdings kaum beigetragen. Dort wächst von Tag zu Tag der Argwohn.

Das Internationale Paralympische Komitee hat ganz offen Lücken in seinem Anti-Doping-System eingeräumt. Hintergrund ist eine Flut von mehr als 140 Weltrekorden. Die begründete Befürchtung ist, dass sich nicht alle Bestmarken nur mit der Weiterentwicklung der Prothesentechnik und verbesserten Trainingsbedingungen erklären lassen.

Weil dem IPC im Vergleich zum olympischen Sport das Geld und vor allem das Personal fehlt, gibt es während der gesamten Paralympics nur 1500 Doping-Tests für mehr als 4300 Athleten. Verpflichtende Tests für alle Medaillengewinner gibt es bei den Paralympics nicht.

Da es im Behindertensport weniger internationale Wettkämpfe gibt, können sich viele Athleten auch leicht der Kontrolle des IPC entziehen. Besonders im Fokus stehen inzwischen Athleten aus China, die bei den Paralympics überragend abgeschnitten haben.

"Alle chinesischen Athleten unterliegen dem Kontrollsystem der chinesischen Anti-Doping-Agentur. Aber wer kontrolliert wird, liegt nicht in unserer Hand", sagte IPC-Sprecher Craig Spence.

Natürlich sind nicht alle Weltrekorde von Rio mit Doping zu erklären. Denn es gibt eine weitere Erkenntnis: Ohne Professionalität ist kein Blumentopf zu gewinnen. Als Hobbysportler gewinnt man bei Paralympics keine Medaillen. High-Tech ist angesagt – zum Beispiel im Radsport, wo Sportgeräte maßangefertigt werden.

Und: Nichts geht ohne Training. Weitsprung-Siegerin Vanessa Low (26), beidseitig oberschenkelamputiert, hat hart gearbeitet: 25 bis 30 Stunden Training pro Woche – dazu Reha, Physiotherapie, Yoga, Gesprächstherapien. "Wir sind an die Grenzen gegangen von dem, was man ertragen kann", sagt die Erfolgsathletin.

"Der paralympische Sport hat einen Riesenschritt gemacht seit London 2012", weiß auch Markus Rehm. Der Weitspringer mit Unterschenkel-Prothese ist überzeugt davon, dass Leistungen im Behindertensport inzwischen geachtet werden. "Das ist ein seriöser Sport, den wir hier zeigen, trotz der Handicaps, die wir alle haben.

Wir brauchen uns vor olympischen Athleten nicht zu verstecken", sagt er. 2014 wurde Rehm sogar deutscher Weitsprung-Meister bei den Nichtbehinderten.

Inklusion als Herausforderung

Dieser Erfolg weist auf Probleme, die in Zukunft immer stärker für Diskussionsbedarf sorgen werden: Behinderte Hochleistungssportler wollen sich mit Nichtbehinderten messen. Debatten über High-Tech-Hilfen und die Vergleichbarkeit von Leistungen werden an Bedeutung gewinnen.

Das Schlüsselwort heißt Inklusion – ein Menschenrecht, das in der auch von Deutschland unterzeichneten UN-Behindertenrechtskonvention festgeschrieben wurde. Die Umsetzung von Inklusion funktioniert bisher allerdings eher schlecht als recht. Dieser Herausforderung wird sich auch der Hochleistungssport stellen müssen. (mit dpa)

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Motivation oder Frustration: Welche Botschaft haben die Paralympics für die Welt?

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