Ein gigantischer Berg an Überstunden

An der Uniklinik Gießen-Marburg schieben die Mitarbeiter mehr als 250 000 Überstunden vor sich her. Besonders betroffen: Ärzte und Pflegekräfte. Aber auch vor der Privatisierung war die Welt nicht heil.

Von Gesa Coordes Veröffentlicht:
An Patienten herrscht weder in Marburg noch in Gießen Mangel. Allerdings fehlt es an Personal.

An Patienten herrscht weder in Marburg noch in Gießen Mangel. Allerdings fehlt es an Personal.

© Foto: Wegst

MARBURG. Bis Juni dieses Jahres haben sich in den privatisierten Unikliniken Gießen und Marburg mehr als 250 000 Überstunden angehäuft. "Wir halten das für einen Spitzenwert", kritisiert Gesamtbetriebsratsvorsitzender Dirk Gehrke. Besonders viel Mehrarbeit gab es am Standort Gießen (141 000). Besonders betroffen sind Ärzte und Pflegekräfte, die insgesamt für beide Standorte zusammengenommen jeweils 94 000 Überstunden ableisteten. "Das Personal ist psychisch und physisch am Ende", sagt die Marburger Betriebsratsvorsitzende Bettina Böttcher. Um die Überstundenzahl abzubauen, müssten mehr als 100 neue Mitarbeiter eingestellt werden. Schließlich sei die Zahl der Patienten deutlich gestiegen.

Jetzt waren die Überstunden sogar Thema vor dem Arbeitsgericht: Professor Siegfried Bien, Chefarzt der Marburger Neuroradiologie, hatte allein im Januar und Februar 240 Überstunden angeordnet, ohne den Betriebsrat zu fragen. Er habe dies schlicht vergessen, erklärte Bien. Geschieht dies noch einmal, muss das Klinikum nach dem Gerichtsvergleich pro Tag und Person 100 Euro an den Eltern-Kind-Verein zahlen.

Die Absprache mit dem Betriebsrat hat Bien nun zugesichert. Die Überstunden ließen sich damals aber kaum vermeiden, sagt er. Lange arbeitete seine Abteilung nur mit einem Teil des vorgesehenen Personals. Im Januar waren nur 4,5 von zehn Arztstellen besetzt. Keiner habe sich auf die vakanten Posten beworben, erzählt Bien: "Es gibt einen Ärztemangel, der besonders in den superspezialisierten Gebieten wie der Neuroradiologie zu spüren ist."

Das Problem könne man nur lösen, wenn man Ärzte einstellt oder Patienten wegschickt, urteilt Arbeitsrichter Hans Gottlob Rühle: "Wenn man anstelle von zehn Ärzten nur viereinhalb hat, können die irgendwann nicht mehr." Kranke abzuweisen, sei aber sehr schwierig, gibt Bien zu Bedenken: "Bei Verdacht auf Hirntumor oder Bandscheibenvorfall können die Leute nicht sechs Wochen warten." Ordnet ein Chefarzt des Marburger Klinikums jetzt Überstunden ohne Abstimmung mit dem Betriebsrat an, muss er das Bußgeld selbst bezahlen. Arbeitsrichter Rühle hält dies für logisch: "Wenn die Personalverwaltung die Absprache mit dem Betriebsrat anordnet, haben sich die Chefärzte daran zu halten."

Dass die Überstunden mit der Privatisierung des Uni-Krankenhauses zusammenhängen, glaubt Bien nicht: "In einem aktiven Krankenhaus werden Ärzte immer Überstunden haben." Die Sprecherin des Klinikums, Dr. Doris Benz, weist auch darauf hin, dass Rhön bei der Privatisierung vor dreieinhalb Jahren 210 000 Überstunden übernommen habe, die aus früheren Jahren stammen. Seitdem sei es zu einem Anstieg um etwa 50 000 Stunden gekommen. Inzwischen gibt es auch eine Betriebsvereinbarung zur Arbeitszeit. Zudem seien am Standort Marburg bereits 40 neue Pflegekräfte eingestellt worden.

Trotzdem rumort es unter den Ärzten weiter, sagt der Landesgeschäftsführer des Marburger Bundes, Udo Rein. Im privatisierten Uni-Klinikum Marburg und Gießen gibt es nach seiner Einschätzung besonders viele Versuche, die Ärzte um die Bezahlung ihrer Überstunden zu bringen. Mitunter werde die Mehrarbeit gar nicht aufgeschrieben oder Verzicht angeregt: "Dadurch spart man Geld und Stellen", sagt Rein. Es gebe Drittelregelungen, nach denen ein Drittel ausgezahlt, ein Drittel abgebummelt und auf ein Drittel verzichtet wird. Das sei eine Option unter mehreren, bestätigt Sprecherin Benz.

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