"Die Kopfpauschale ist das Hartz IV der GKV"

Wie soll das Gesundheitswesen finanziert werden? Um diese Frage zu beantworten, hat der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) eine Reformkommission eingesetzt. Im Gespräch mit der „Ärzte Zeitung“ nennt DGB-Vorstandsmitglied Annelie Buntenbach die Ziele der Expertenrunde.

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"Die Kommission ist kein Gegenspieler, aber ein Gegenbild zur Regierungskommission." Annelie Buntenbach Vize-Vorsitzende des DGB. Grünen-Abgeordnete von1994 bis 2002 im Bundestag. Wie Minister Rösler feiert sie am Mittwoch ihren Geburtstag. Sie wird 55, er 37. © dpa

"Die Kommission ist kein Gegenspieler, aber ein Gegenbild zur Regierungskommission." Annelie Buntenbach Vize-Vorsitzende des DGB. Grünen-Abgeordnete von1994 bis 2002 im Bundestag. Wie Minister Rösler feiert sie am Mittwoch ihren Geburtstag. Sie wird 55, er 37. © dpa

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Ärzte Zeitung: Minister Philipp Rösler steht unter Druck. Sie haben ihm "Krokodilstränen" attestiert, die er im Zusammenhang mit den von den Kassen erhobenen Zusatzbeiträgen weint. Wie erleben Sie die Diskussion um die Zusatzbeiträge?

Buntenbach: Rösler ist nicht glaubwürdig, wenn er Krankenkassen für die Erhebung von Zusatzbeiträgen kritisiert, diese aber gleichzeitig als Sprungbrett für die Kopfpauschale nutzen will. Der Minister ist in der Pflicht, den Versicherten Zusatzbeiträge zu ersparen. Dazu muss der Gesundheitsfonds zu 100 Prozent ausfinanziert werden, mit gleich hohen Arbeitgeberbeiträgen und Steuerzuschüssen. Würde der Bund etwa für Bezieher von Arbeitslosengeld II die durchschnittlichen Pro-Kopf-Ausgaben der Kassen von 250 Euro zahlen, wäre das aktuelle Defizit von knapp vier Milliarden Euro schon gedeckt. Momentan zahlt der Bund 125 Euro pro Person - das ist zu wenig.

Ärzte Zeitung: Die Regierung plant einen "automatischen" Sozialausgleich, wenn eine Kopfpauschale eingeführt wird. Wie könnte so ein Ausgleich aussehen?

Buntenbach: Dieser Sozialausgleich wird nie zustande kommen, weil die dafür notwendigen 22 bis 35 Milliarden Euro nicht finanzierbar sind. Wie das Finanzministerium ausgerechnet hat, benötigt man dafür massive Steuererhöhungen. Das hieße, dass alle, die Zuschüsse bräuchten, sie mit ihren eigenen Steuern mitfinanzieren. Es kann doch niemand ernsthaft wollen, dass Menschen mit geringem Einkommen und Rentner zu bedürftigen Bittstellern gemacht werden. Die Kopfpauschale würde zu einer Art Hartz-IV in der Krankenversicherung führen. Außerdem würden etliche Milliarden für die Versorgung fehlen, weil Gutverdiener und Arbeitgeber entlastet werden sollen.

Ärzte Zeitung: Parallel zur Regierung will auch der DGB eine Kommission einsetzen, die sich mit der Zukunft des Gesundheitswesens beschäftigt. Soll die Kommission als Opposition zur Regierung fungieren?

Buntenbach: Die Kommission ist kein Gegenspieler, aber ein gesellschaftliches Gegenbild zur Regierungskommission. Die tagt ja in einer Art interministerieller Arbeitsgruppe im Verborgenen. Unsere Kommission ist eine Mischung aus gesellschaftlichem Gestaltungswillen und wissenschaftlicher Expertise.

Ärzte Zeitung: Wenn die Regierung im Verborgenen tagt: Wird es beim DGB offene Türen geben?

Buntenbach: Wir haben keinen Grund, uns zu verstecken. Wir wollen eine transparente öffentliche Debatte. Wir werden unsere Diskussion, Ergebnisse und Positionen präsentieren. Ich halte es für falsch, dass die Bundesregierung mit spitzer Feder einen Systemwechsel formuliert und hinter verschlossenen Türen aushandeln will, wie das technisch umgesetzt werden kann.

Ärzte Zeitung: Kann man als Ergebnis eine weiterentwickelte Bürgerversicherung als Ergebnis erwarten?

Buntenbach: Uns eint das Ziel, die Solidarität bei der Finanzierung der GKV zu stärken. Wir werden uns aber nicht auf Modelle reduzieren, denn theoretische Konstrukte helfen nicht weiter - siehe Kopfpauschale. Die solidarische Bürgerversicherung bleibt Leitidee des DGB. Wir wollen eine nachhaltige solidarische Finanzierung entwickeln. Dazu begleiten wir die Vorhaben der Regierung und zeigen, was deren Entscheidungen für die Menschen bedeuten würden.

Ärzte Zeitung: Es gibt also eine Vorgabe, dass am Ende ein Modell für die Bürgerversicherung stehen soll?

Buntenbach: Mit einer solchen Vorgabe gehen wir nicht in die Diskussion. Es geht um konkrete Schritte für mehr Gerechtigkeit, denn wir haben akute sowie chronische Probleme im Gesundheitswesen. Insgesamt stehen wir vor einer Richtungsentscheidung: Kopfpauschale und die Verhartzung der Krankenversicherung oder aber ein Mehr an Solidarität. Bei dieser Auseinandersetzung, die ja auch innerhalb der Koalition tobt, will der DGB weiter mitmischen.

Ärzte Zeitung: Die Bürgerversicherung steht ja bei einigen Parteien im Programm. Wie nah an der Politik soll die Kommission arbeiten?

Buntenbach: Wir halten engen Kontakt zu allen im Bundestag vertretenen Parteien. Um die Debatte in den Parteien aufzunehmen, haben wir deren Arbeitnehmer-Organisationen eingeladen. Der Austausch ist wichtig, da die grundsätzliche Frage der Finanzierung des Gesundheitswesens über die Tagespolitik hinausgeht.

Das Gespräch führte Rebecca Beerheide

Die Mitglieder der DGB-Reformkommission

In der Reformkommission "Für ein solidarisches Gesundheitssystem der Zukunft" arbeiten ab dem 10. März 36 Personen. Dazu gehören neben Annelie Buntenbach unter anderem Ottmar Schreiner (SPD, MdB, Vorsitzender der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen), Fritz Schösser (Aufsichtsratsvorsitzender AOK-Bundesverband), Kerstin Griese (Diakonisches Werk), der stellvertretende Bundeswahlbeauftragte Klaus Kirschner, Beate Müller-Gemmeke (MdB, Gewerkschaftsgrün), Christian Zahn (vdek), Prof. Stefan Greß (Uni Fulda), Klaus Wiesehügel (Vorsitzender IG BAU), Dr. Markus Lüngen (Uni Köln), Adolf Bauer (Präsident des SoVD), Prof. Thomas Gerlinger (Uni Frankfurt), Prof. Thorsten Kingreen (Uni Regensburg), Prof. Heinz Rothgang (Uni Bremen) sowie Prof. Rolf Rosenbrock (WZB).

Außerdem sind dabei: Prof. Bernhard Langer (Hochschule Neubrandenburg), Harald Weinberg (MdB für die Arbeitsgemeinschaft Betrieb und Gewerkschaft), Wolfgang Stadler (Vorsitzender der AWO), Sven Frye (Vorsitzender des Deutschen Bundesjugendrings), Marlies Brouwers (Vorsitzende des Deutschen Frauenrats), Oliver Suchy und Knut Lambertin (beide Gewerkschaftssekretäre beim DGB-Bundesvorstand), Bernhard Witthaut (Stellvertretender Vorsitzende der GdP), Anne Jenter (Vorstandsmitglieder der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft GEW), Ulrich Freese (stellvertretender Vorsitzender der IG BCE), Hans-Jürgen Urban (Vorstandsmitglied der IG Metal), Prof. Gustav Horn (wissenschaftlicher Direktor des IMK), Birgit Zenker (Vorsitzende der KAB), Prof. Gerhard Trabert (Nationale Armutskonferenz), Michaela Rosenberger (stellvertretende Vorsitzende der NGG), Dr. Eberhard Jüttner (Vorsitzender des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes), Regina Rusch-Ziemba (stellvertretende Vorsitzende von Transnet), Ulrike Mascher (Präsidentin des VdK), Ellen Paschke (Mitglied des Bundesvorstandes von ver.di), Gerd Billen (Vorstand Verbraucherzentrale Bundesverband), Prof. Gunnar Winkler (Präsident der Volkssolidarität) sowie Dr. Simone Leiber, Florian Blank und Dr. Claus Schäfer (alle WSI). CDA und CSA, die Arbeitnehmer-Organisationen der CDU und CSU, haben ihre Teilnahme abgesagt. (bee)

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