Vor 20 Jahren verabschiedet

Das hat das Gesundheitsstrukturgesetz gebracht

Vor 20 Jahren hielt mit dem Gesundheitsstrukturgesetz der Wettbewerbsgedanke Einzug in das deutsche Gesundheitswesen. Die Bilanz fällt allerdings durchwachsen aus.

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"Weil wir es wollten, hatten die Lobbyisten gegen uns keine Chance", sagt Rudolf Dreßler, SPD-Sozialpolitiker.

"Weil wir es wollten, hatten die Lobbyisten gegen uns keine Chance", sagt Rudolf Dreßler, SPD-Sozialpolitiker.

© Gero Breloer / dpa

ESSEN (iss). Die Gesundheitspolitik hat ein großes Problem: Die meisten Politiker wissen das System der gesetzlichen Krankenversicherung nicht genug zu schätzen. Das glaubt der SPD-Politiker Rudolf Dreßler.

"Ich vermisse seit vielen Jahren, dass die Politik die solidarische Krankenversicherung parteiübergreifend als ein Qualitätsmerkmal allererster Ordnung darstellt und nicht als Selbstverständlichkeit", sagte Dreßler auf dem Symposium "Zwanzig Jahre Wettbewerb in der gesetzlichen Krankenversicherung".

Veranstalter war die Dokumentations- und Forschungsstelle der Sozialversicherungsträger.

Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg

Dreßler hatte im Jahr 1992 gemeinsam mit Horst Seehofer (CSU) und Dieter Thomae (FDP) den Kompromiss von Lahnstein festgezurrt, der im Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) mündete.

Das Gesetz brachte die Wahlfreiheit der Versicherten in der GKV ebenso auf den Weg wie den Risikostrukturausgleich der Krankenkassen und die Budgetierung der ärztlichen Vergütung.

Gelungen sei dieser Kraftakt nur durch die Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg, sagte Dreßler. "Weil wir es wollten, hatten die Lobbyisten gegen uns keine Chance, denn wir hatten alle in einem Boot." Das Projekt hatte allen Beteiligten Mut abverlangt, und genau dieser Mut fehle den heutigen Politikern.

Nach Einschätzung von Franz Knieps, der von 2003 bis 2009 die Abteilung Gesetzliche Krankenversicherung im Bundesgesundheitsministerium (BMG) leitete, mangelt es dem Gesetzgeber nicht nur an Mut, sondern auch an Sorgfalt.

"Gesetzgebung auf dem Flur funktioniert nicht, sie bedarf der präzisen Vorarbeit und der Folgenabschätzung", sagte er. Schnellschüsse machten in der Gesundheitspolitik keinen Sinn.

Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen

Das GSG gilt als Auftakt des Wettbewerbsgedankens in der GKV. "Der Wettbewerb war eher ein Folgeprodukt und nicht das eigentliche Ziel", sagte Hartmut Reiners, der als Experte der SPD-Bundesländer an vielen GKV-Reformen beteiligt war.

"Für die Politik spielte die Gleichstellung von Arbeitern und Angestellten eine wesentlich größere Rolle."

Ohnehin seien die Wirkungsmöglichkeiten des Wettbewerbs begrenzt. In Großstädten wie Berlin sei es denkbar, die gesundheitliche Versorgung dem freien Wettstreit der Anbieter anheimzustellen, sagte Reiners.

Auf dem Land funktioniere das aber nicht. "Auf dem Land müssen wir alle Krankenkassen verpflichten, gemeinsam und einheitlich die Versorgung sicherzustellen."

Das sieht auch der Gesundheitswissenschaftler Professor Thomas Gerlinger von der Universität Bielefeld so. "Ich sehe nicht, wie der Wettbewerb dazu beitragen könnte, die Sicherstellung in strukturschwachen Regionen zu gewährleisten."

Bislang sei der Wettbewerb vor allem ein Kostensenkungs-Wettbewerb geblieben - mit negativen Konsequenzen, sagte Gerlinger.

"Wettbewerb und Kostendruck haben zu einer deutlichen Verschlechterung der Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen geführt." Außerdem sei die Bürokratie stark angewachsen.

"Erwartung von irrsinnigen Einsparpotenzial"

Die Gesundheitspolitik leidet unter einer mangelnden Experimentierfreudigkeit, glaubt Dr. Robert Paquet, der lange Zeit für den BKK-Bundesverband tätig war und jetzt als Berater und Journalist arbeitet.

Er beklagte das Fehlen einer gesellschaftlichen Ermutigung zu Suchprozessen. "Alles ist von der Politik mit der Erwartung von irrsinnigen Einsparpotenzialen überfrachtet worden."

Wenn die Politiker den Wettbewerb in der Gesundheitsversorgung wollten, dann müssten sie für einen gewissen Zeitraum auch unterschiedliche Resultate in Kauf nehmen, forderte Paquet. "Es muss ein Mindestmaß an Neutralität gegenüber den Entwicklungen geben."

Genau diese Neutralität habe die frühere Gesundheitsministerin Ulla Schmidt (SPD) mit ihrer Parteinahme für die Hausarztverträge vermissen lassen.

Einzelne Wettbewerbsinstrumente haben sich in der Rückschau als ungeeignet erwiesen, sagte Dr. Manfred Zipperer, der von 1996 bis 1998 an der Spitze der Abteilung Gesundheitsversorgung im BMG stand.

"Beitragsrückerstattung und Selbstbehalte waren Verstöße gegen das Solidarprinzip, das ist kein Thema für die Gesetzliche Krankenversicherung", sagte er.

Lesen Sie dazu auch den Kommentar: Die Illusion vom freien Wettbewerb

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