Ärztemangel

Renaissance der Poliklinik im ländlichen Thüringen

Beim innovativen Werben um Ärzte wird erfolgreich mit Modellen gearbeitet, die gar nicht neu sind. Das größte unabhängige MVZ in Thüringen arbeitet an neun Standorten mit über 20 Ärzten und 70 Angestellten - eine echte Erfolgsgeschichte.

Von Robert Büssow Veröffentlicht:
In der Polyklinik in Daberstedt gründete Volker Kielstein ein neues Versorgungszentrum.

In der Polyklinik in Daberstedt gründete Volker Kielstein ein neues Versorgungszentrum.

© Büssow

ERFURT. Wenn Volker Kielstein von der Zukunft der medizinischen Versorgung spricht, dann fallen Worte wie Prozessoptimierung, papierlose Praxis, Personal- und Qualitätsmanagement. "Wir können es uns nicht mehr leisten, so ineffizient wie bisher mit der Ressource Arzt umzugehen", sagt der 41-Jährige nüchtern.

Leitet ein MVZ, das in Thüringen Zeichen setzt: Dr. Volker Kielstein.

Leitet ein MVZ, das in Thüringen Zeichen setzt: Dr. Volker Kielstein.

© Büssow

Kielstein ist vielleicht so etwas wie der Prototyp dieser Zukunft. Er ist Facharzt für Allgemeinmedizin, entstammt einer Ärzte-Dynastie in Jena und hat noch ein Studium der Betriebswirtschaft draufgesattelt.

Vor fünf Jahren gegründet, jetzt ein kleines Imperium

Vor fünf Jahren gründete er mit seiner Mutter eine überörtliche Gemeinschaftspraxis - daraus ist inzwischen ein kleines Imperium geworden. Seit Jahresanfang leitet er das größte unabhängige MVZ in Thüringen. Neun Standorte mit über 20 Ärzten und 70 Angestellten werden es in Kürze sein, davon allein drei Anlaufstellen in Erfurt.

Über Ärztemangel kann er nicht klagen. "Viele wollen heute ein geregeltes Arbeitsverhältnis, nicht mehr bis zum Umfallen arbeiten, eben eine normale Work-Life-Balance. Das ist in einer Einzelpraxis kaum möglich", sagt Kielstein.

In Thüringen sind seit der Einführung vor acht Jahren rund 100 MVZ aus dem Boden geschossen. Wirklich neu sind sie für die meisten Thüringer allerdings nicht. Die Mini-Krankenhäuser ähneln der DDR-Poliklinik.

311er-Einrichtungen - was bedeutet das?

Polikliniken waren in der DDR als Kreis- und Bezirkspolikliniken das Rückgrat der medizinischen Versorgung, Im Jahr 1989 gab es auf dem Gebiet der ehemaligen DDR rund 150 Polikliniken und Ambulatorien.

Im Einigungsvertrag erhielten diese Einrichtungen – quasi historische Vorläufer der heutigen MVZ – eine zunächst bis 1995 befristet geltende Zulassung zur vertragsärztlichen Versorgung („311er Einrichtungen“). Sie wurde 1993 für die noch bestehenden wenigen 311er Einrichtungen in dauerhafte Zulassungen umgewandelt.

Seit 2004 können neben Vertragsärzten und ermächtigten Ärzten auch Medizinische Versorgungszentren an der ambulanten Versorgung teilnehmen.

Die alte Versorgungsform steigt wie Phoenix aus der Asche. Nach der Wiedervereinigung stellten binnen weniger Jahre alle Polikliniken und Ambulatorien ihren Betrieb ein, erinnert sich Wolf-Rüdiger Rudat, Thüringens erster KV-Chef. Die sogenannten 311er-Einrichtungen genossen laut SGB zwar Bestandsschutz, doch ihnen liefen die Ärzte davon.

"Wir haben einmal an drei Tagen 150 Ärzte zugelassen. Die kamen vorne rein und hinten als Niedergelassene raus. Wir nannten es die drei tollen Tage", erzählt Rudat.

Ein radikaler Umbruch

Der radikale Umbruch vom zentral gesteuerten zu einem von der KV sichergestellten ambulanten System freiberuflicher Ärzte war gewaltig. "Es war schon ein kleines Wunder, dass das ohne größere Pannen geklappt hat", sagt Rudat.

Für die heutige KV-Chefin Annette Rommel kam die Wende genau zur richtigen Zeit: Sie hatte gerade den Facharzt fertig und war junge Mutter. "Es war eine irre Zeit und einfach toll zu wissen, du stehst jetzt an einem Anfang und kannst selbst gestalten."

Im Dezember 1990 ließ sich die Hausärztin in Mechterstädt bei Gotha nieder. Für viele herrschte Goldgräber-Stimmung - auf die Budgets kam erst nach zwei Jahren ein Deckel.

Bis zur Einführung der Bedarfsplanung war auch die Niederlassung frei wählbar. Mit den Folgen hat Rommel heute zu kämpfen. Während Jena und Weimar gesperrt sind, wird auf dem Land händeringend gesucht.

Allein in Gotha fehlen mehr als 20 Hausärzte

Und Thüringen ist sehr ländlich. Die KV könnte aktuell 230 Zulassungen verteilen, allein in Rommels Heimatregion Gotha fehlen mehr als 20 Hausärzte. Dabei kommt die große Ruhestandswelle erst noch - im Schnitt sind die Hausärzte etwa Mitte 50.

Nur weil viele länger arbeiten, geht es noch: In Gotha etwa formierte sich eine Senioren-Praxis aus reaktivierten Ruheständlern. Bis vor elf Monaten ein Ehepaar aus Österreich einsprang.

Werner Plörer und Vaitsa Dimitriadou sind nur angestellt. Das Modell heißt Eigeneinrichtung und wurde von der KV Thüringen quasi erfunden - jetzt ist es im GVK-Versorgungsstrukturgesetz kanonisiert.

Günstig für ausländische Ärzte

"Für ausländische Ärzte ist es großartig, weil man sich langsam in die Eigenheiten des Gesundheitssystems einarbeiten kann und einem viel abgenommen wird", sagt Plörer, der die Fahrschulpraxis perspektivisch übernehmen will. Noch wird sie von der Stiftung zur Förderung der ambulanten Versorgung betrieben, die 2009 von der KV und der Landesregierung gegründet wurde - als zentrales Instrument gegen den Ärztemangel.

Sie hat inzwischen über 50 Stipendien vergeben, um angehende Hausärzte in unterversorgte Regionen zu locken. Das wird aber nicht reichen, glaubt Matthias Wesser, Präsident der Thüringer Ärztekammer.

"Ohne eine bessere Vernetzung und Kooperation der Einzelpraxen wird es in Zukunft nicht mehr funktionieren." Ob in Form eines MVZ oder als Gemeinschaftspraxis spiele keine Rolle.

Auch an eine "Erfahrung aus früheren Zeiten", das Ambulatorium, müsse man anknüpfen, sagt der Kardiologe. "Also auf dem flachen Land Räume vorhalten, ohne dass sich Ärzte gleich niederlassen müssen." Und letztlich werde die Debatte in Richtung Priorisierung gehen.

Das unbeliebte Wort verwendet die KV-Chefin nicht. "Aber es ist vielleicht ein Problem, dass viele Patienten glauben, dass immer alles unbegrenzt zur Verfügung steht."

"Die medizinische Versorgung ist auf einem sehr, sehr hohen Niveau"

Gleichzeitig warnt sie vor Schwarzmalerei: "Die medizinische Versorgung ist auf einem sehr, sehr hohen Niveau - qualitativ und quantitativ. Es fehlt zwar manchmal an einem Haus- oder Augenarzt, aber im Grunde kann sich jeder seinen Arzt der Wahl suchen."

Rommel ist zwar kein Fan der MVZs, aber wem es gefalle. Auch Kielstein sieht den Boom der MVZ kritisch, weil die Mehrzahl von den Krankenhäusern als "Saugrüssel" genutzt werde.

"Wir verstehen uns als Basisversorger, ohne Schicki-Micki-Behandlungen." Aber eben hochgradig vernetzt: für seine Standorte in ganz Thüringen besteht ein einziges Bestellsystem mit einer zentralen Rufnummer, Patientenakte, gemeinsamen EDV, Controlling.

Das alles nehme er seinen angestellten Ärzten ab. Nur er selbst ist beides mit Leib und Seele: Arzt und Manager. "Ich habe noch einen vollen KV-Sitz und 30 Stunden Sprechstunde. Ich habe ja nicht Medizin studiert, um mich nur um die Zahlen zu kümmern", sagt Kielstein.

Das liege wohl im Blut. Seine Mutter Helga hat in der DDR bereits ein Ambulatorium in Jena-Lobeda geleitet.

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