Hochschulmedizin

Werden Deutschlands Forscher abgehängt?

Die Hochschulmedizin in Deutschland droht, ihre klügsten Köpfe zu verlieren. Regierungsberater haben der Koalition eine Mängelliste notiert, die Stoff für viele Reformen bietet. Im Zentrum der Kritik: Die schlechte Situation junger Ärzte in der Forschung.

Florian StaeckVon Florian Staeck Veröffentlicht:
Ob dieses Foto in Deutschland aufgenommen wurde?

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© Manuel Schäfer / fotolia.com

BERLIN. Regierungsberater sehen Deutschlands Hochschulen unter Druck: Nach einem Bericht der Experten-Kommission Forschung und Innovation (EFI) sind zwischen 1996 und 2011 rund 23.000 Forscher ins Ausland gegangen, nur 19.000 kamen im selben Zeitraum nach Deutschland.

Die EFI bezeichnet in ihrem am Mittwoch vorgelegten Gutachten diese Bilanz als "ernüchternd". "Die Hochschulen müssen gestärkt werden, damit sie für Nachwuchskräfte attraktiver werden." Oft sei Deutschland im internationalen Wettbewerb um den Nachwuchs zu unsichtbar, sagte der Kommissionsvorsitzende Professor Dietmar Harhoff bei der Vorstellung des Gutachtens.

Bundeskanzlerin Angela Merkel wollte es bei dieser skeptischen Botschaft der Gutachter nicht belassen. Bei der Entgegennahme des Gutachtens sagte sie: "Ich denke, dass es in den letzten Jahren eine Tendenzumkehr gegeben hat, (so) dass wir sehr viele Studierende aus dem Ausland, sehr viele in den Graduiertenkollegs und auch Wissenschaftler haben, die, nachdem sie ins Ausland gegangen sind, wieder zurückgekehrt sind."

Allerdings sehen die EFI-Gutachter in der deutschen Hochschullandschaft strukturellen Reformbedarf, und zwar auch in der Hochschulmedizin. Denn Forschung ist für junge Ärzte an deutschen Unikliniken oft unattraktiv, Wagniskapital fehlt häufig, Fördergeld wird zu sehr mit der Gießkanne verteilt. Die Mängelliste der deutschen Hochschulmedizin ist lang.

Die sechs EFI-Experten fordern in ihrem Gutachten Strukturreformen in den Hochschulen und in der Förderpolitik durch Bund und Länder. Wie ein roter Faden zieht sich durch das Gutachten: Deutschland müsse sich sputen, wenn es in der Medizinforschung nicht den Anschluss an die führenden Länder verlieren will.

Nachwuchswissenschaftler: Harsche Kritik äußert das Expertengremium an den Arbeitsbedingungen für Nachwuchswissenschaftler. In Deutschland seien die Hochschulklinika nach wie vor durch steile Hierarchien geprägt. In den USA sei die Abhängigkeit der Mitarbeiter von ihren Vorgesetzten dagegen geringer.

Forschung wird an vielen hiesigen Kliniken als "Freizeittätigkeit" verstanden, in den USA werde dagegen klar geregelt, "wie viel Zeit ein Mediziner für die Klinik und für das Labor sowie für Lehrtätigkeiten aufzuwenden hat".

Hinzu komme, dass die Anerkennung von Forschungszeiten auf die Facharztweiterbildung "intransparent" geregelt ist. Deutschland, so das Fazit, "droht bei der Anwerbung qualifizierter Forscher zurückzufallen und die besten Talente zu verlieren".

Medizinstudium: Die EFI-Gutachter empfehlen, die Ausbildung in "einen mehr wissenschaftsbezogenen und einen eher auf den Arztberuf ausgerichteten Pfad" zu differenzieren.

In Deutschland sei die Ausbildung in den vergangenen Jahren stark auf eine Stärkung der praktischen ärztlichen Tätigkeit ausgerichtet gewesen. Für einen Ausgleich zwischen Praxisbezug und Wissenschaftlichkeit verweist das Gutachten auf die USA.

Dort ist die Doppelqualifikation in Form von MD/PhD-Programmen verbreitet. In der deutschen Hochschulmedizin ist die Investition von Arbeitszeit in eine zusätzliche naturwissenschaftliche Promotion weniger karrierefördernd als eine Habilitation in Medizin.

Sogenannte "Physician-Scientists" leisten nach Ansicht des EFI einen wichtigen Beitrag, damit Forschungsergebnisse schneller in die Patientenversorgung umgesetzt werden.

Unterfinanzierung: Die deutsche Hochschulmedizin ist immer stärker von den Einnahmen aus der Patientenversorgung abhängig. Die Einnahmen stiegen 8,8 Milliarden (2002) auf 13,4 Milliarden Euro (2011), ein Plus von jährlich 4,8 Prozent.

Im gleichen Zeitraum sind auch die Drittmitteleinnahmen jährlich um 6,6 Prozent auf zuletzt 1,53 Milliarden Euro für Humanmedizin und Gesundheitswissenschaften gestiegen. Hingegen haben die der Hochschulmedizin verfügbaren Grundmittel jährlich nur um 1,9 Prozent auf fünf Milliarden Euro (2011) zugenommen.

In Ländern wie in den USA, Kanada, den Niederlanden und der Schweiz werden systemische Mehrbelastungen der Hochschulklinika durch Forschung und Ausbildung durch verschiedene Instrumente zumindest anteilig kompensiert - nicht aber in Deutschland.

Die EFI konstatiert daher eine Benachteiligung deutscher Einrichtungen im Vergleich zur ausländischen Konkurrenz. Damit bestehe die Gefahr, dass die Krankenversorgung durch Mittel subventioniert wird, die eigentlich für Forschung und Lehre vorgesehen sind.

Gutachter: Nicht nur die Kassen heranziehen!

Die Gutachter warnen die Bundesregierung, bei der Wahl eines Ausgleichsmechanismus' für Hochschulklinika mit großer Vorsicht vorzugehen. So sei es beispielsweise nicht sachgerecht, nur die Krankenkassen mit dem Kostenausgleich zu belasten.

Statt dessen solle die Grundfinanzierung gestärkt werden: Durch eine Grundgesetzänderung in Artikel 91b solle der Bund wieder in die Lage versetzt werden, Hochschulen direkt zu fördern.

Dabei warnen die EFI-Gutachter vor der Gießkanne der öffentlichen Hand: Bund und Länder sollten die Förderung regional konzentrieren. Warnend heißt es: "Als Instrument des Regionalproporzes sind Hochschulklinika denkbar ungeeignet."

Als Vorbild schwärmen die Gutachter von der Region Boston/Cambridge: Neben den Spitzenuniversitäten Harvard und dem Massachusetts Institute of Technology gebe es dort namhafte weitere Universitäten, renommierte Lehrkrankenhäuser sowie Forschungsniederlassungen großer Pharma- und Biotech-Unternehmen. Die meisten Einrichtungen seien "fußläufig untereinander erreichbar".

Vom Labor ans Patientenbett: Vor allem in der sogenannten Translation, dem Übergang von der klinischen Forschung in die Patientenversorgung, hat Deutschland in der Vergangenheit Defizite gehabt. Fortschritte versprechen sich Forschungspolitiker hier vor allem durch die sechs Zentren für Gesundheitsforschung, die seit 2009 gegründet wurden.

Dort sollen Hochschulklinika mit außeruniversitären Einrichtungen bei der Erforschung der Volkskrankheiten zusammenarbeiten. Bei der Bewertung, ob diese Zentren ein Erfolgsmodell sind, halten sich die EFI-Gutachter zurück.

Da die Evaluation erst in diesem Jahr startet, sollte mit der Gründung weiterer Gesundheitszentren gewartet werden, heißt es in der Expertise.

Deutsche Forschungsregionen nur im Mittelfeld

Qualitativ und quantitativ spielen die führenden deutschen Hochschulklinika im internationalen Vergleich nur zweite Geige. Das zeigt die Untersuchung, die das EFI beim Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung (ISI) in Auftrag gegeben hat.

Für Deutschland wurden die Standorte Berlin, Hannover, Heidelberg, München und Tübingen untersucht. Hinzu kamen Spitzenuniversitäten aus den USA, Kanada, den Niederlanden und der Schweiz.

Bei der Untersuchung der Publikationsintensität, also der absoluten Zahl der wissenschaftlichen Veröffentlichungen, belegen die deutschen Standorte mittlere Ränge, Hannover verzeichnet im innerdeutschen Ranking die höchste Dichte an Veröffentlichungen. Dominiert wird die Liste von der Harvard-Universität und der Region Boston/Cambridge.

Beim Vergleich der Exzellenzrate wurde der Anteil von Wissenschaftlern eines Standorts in den meistzitierten Publikationen in der Medizinforschung gemessen. Auch hier liegen die US-Standorte Boston/Cambridge, San Francisco und Houston vorn.

Rotterdam spielt als einzige Region außerhalb der USA noch in der ersten Liga mit. Die deutschen Forschungsregionen finden sich "auf den unteren Rängen wieder". Nur Heidelberg könne sich im Vergleich im Mittelfeld behaupten. In der Messung der Forschungsqualität - gemessen an der Exzellenrate der Publikationen - schneiden deutsche Universitäten somit weniger gut ab, folgert das EFI.

Mitarbeit: sun

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