Forschungsprojekt zeigt

Viele Patienten erleben Gewalt

Sie schämen sich, entwickeln Schuldgefühle, haben pure Angst: Patienten mit Gewalterfahrungen benötigen besondere Zuwendung. Ein Forschungsprojekt der Uniklinik RWTH Aachen liefert spannende Ergebnisse.

Ilse SchlingensiepenVon Ilse Schlingensiepen Veröffentlicht:
Verprügelt vom Lebenspartner. Das Thema Gewalt wird in Klinik und Praxis nicht selten unterschätzt.

Verprügelt vom Lebenspartner. Das Thema Gewalt wird in Klinik und Praxis nicht selten unterschätzt.

© Dörr / fotolia.com

KÖLN. Unabhängig davon, aus welchen Gründen ein Patient in die Praxis oder die Klinik kommt: Ärzte sollten immer die Möglichkeit im Blick behalten, dass Gewalterfahrungen die Ursache von gesundheitlichen Beeinträchtigungen sein können.

Wichtig ist, dass die Mediziner die Patienten auf das Thema ansprechen und auf Hilfs- und Unterstützungsangebote hinweisen. Dabei dürfen sie das Augenmerk nicht nur auf Frauen lenken, denn auch eine große Zahl von Männern ist bereits Opfer von Gewalt geworden.

Das zeigt das Projekt "Gender Gewaltkonzept" an der Universitätsklinik RWTH Aachen. Hierfür waren 5003 Patienten an den unterschiedlichen Kliniken der RWTH pseudonymisiert nach ihren Gewalterfahrungen befragt worden. 150 Betroffene wurden interviewt und umfangreich psychologisch untersucht.

"Erschreckende Zahlen"

Ein Ergebnis: 41 Prozent der Patienten - 43,3 Prozent der Frauen und 38,2 Prozent der Männer - gaben an, mindestens eine der verschiedenen Gewaltformen erlebt zu haben: körperliche, psychische, sexuelle oder wirtschaftliche Gewalt.

"Die Zahlen sind erschreckend", sagt Aynur Evler, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der RWTH. "Es gibt sehr viele Betroffene, aber sie werden häufig nicht als Gewaltopfer erkannt."

Um das zu ändern, haben die Wissenschaftler das medizinische Personal der Klinik geschult. Anhand der Befragungsergebnisse konnten sie Ärzten, Pflegern, Physiotherapeuten und anderen Mitarbeitern zeigen, wie groß die Prävalenz der Gewalt in ihren Häusern ist, ohne dass sie es bemerkt hätten, berichtet Evler.

Die Fortbildungen seien jeweils auf die spezifischen Verhältnisse in den Kliniken ausgerichtet gewesen.

Sie umfassten neben Hintergrundwissen und der Sensibilisierung für die Problematik Informationen über die Möglichkeiten, Gewaltopfer zu erkennen, über Gesprächsführungsmethoden, die standardisierte und gerichtsverwertbare Dokumentation sowie über das Hilfe- und Beratungssystem in der Region Aachen.

An der RWTH haben die Case Manager inzwischen eine Frage zur Gewalt in ihre Standard-Dokumentation aufgenommen.

Die Wissenschaftler sprechen sich dafür aus, dass jeder Patient nach Gewalterfahrungen gefragt werden sollte. "Das gilt unabhängig davon, aus welchem Grund er in die Klinik kommt", betont Evler.

Die Aachener Erhebung hat gezeigt, dass Gewaltopfer deutlich häufiger über Verletzungen, Schmerzsyndrome, Schlafstörungen, Depressionen, sexuelle Störungen und posttraumatische Belastungsstörungen berichten als andere Patienten.

Patienten mit Gewalterfahrungen haben in größerem Umfang ein problematisches Verhalten mit Blick auf Nikotin, Alkohol oder sonstige Drogen. Sie haben eine höhere Suizidalität und verletzen sich häufiger selbst.

Während Frauen oft von häuslicher und sexualisierter Gewalt durch Menschen aus ihrem persönlichen Umfeld betroffen sind, werden Männer meist im außerhäuslichen Bereich Opfer psychischer und physischer Gewalt durch fremde Männer.

Schlüsselrolle für Ärzte

Das "Gender Gewaltkonzept" ist mit fast 1,3 Millionen Euro vom nordrhein-westfälischen Gesundheitsministerium und der EU gefördert worden. NRW-Gesundheitsministerin Barbara Steffens (Grüne) bezeichnet die Ergebnisse als wegweisend.

"Sie zeigen, wie wichtig es ist, dass Ärztinnen und Ärzte Gewalt als Ursache für gesundheitliche Beeinträchtigungen erkennen und ihnen dabei die unterschiedlichen Auswirkungen bei Frauen und Männern bekannt sind."

Gewaltopfer redeten aus Scham, Angst oder Schuldgefühlen häufig nicht über ihre Erfahrungen, sagt sie. Aber fast jedes Opfer sei irgendwann in ärztlicher Behandlung. "Deshalb kommt Ärzten beim Erkennen von Gewalterfahrungen und den gesundheitlichen Folgen eine Schlüsselrolle zu", so Steffens.

Mehr zum Thema

Medizinforschungsgesetz

Regierung: Ethikkommission beim Bund bleibt unabhängig

Kommentare
Vorteile des Logins

Über unser kostenloses Login erhalten Ärzte und Ärztinnen sowie andere Mitarbeiter der Gesundheitsbranche Zugriff auf mehr Hintergründe, Interviews und Praxis-Tipps.

Haben Sie schon unsere Newsletter abonniert?

Von Diabetologie bis E-Health: Unsere praxisrelevanten Themen-Newsletter.

Das war der Tag: Der tägliche Nachrichtenüberblick mit den neuesten Infos aus Gesundheitspolitik, Medizin, Beruf und Praxis-/Klinikalltag.

Eil-Meldungen: Erhalten Sie die wichtigsten Nachrichten direkt zugestellt!

Newsletter bestellen »

Top-Meldungen

Umstellung auf Living Guideline

S3-Leitlinie zu Pankreaskrebs aktualisiert

Nach Koronararterien-Bypass-Operation

Studie: Weniger postoperatives Delir durch kognitives Training

Lesetipps
Gefangen in der Gedankenspirale: Personen mit Depressionen und übertriebenen Ängsten profitieren von Entropie-steigernden Wirkstoffen wie Psychedelika.

© Jacqueline Weber / stock.adobe.com

Jahrestagung Amerikanische Neurologen

Eine Frage der Entropie: Wie Psychedelika bei Depressionen wirken

Gesundheitsminister Lauterbach hat angekündigt, den Entwurf für die Klinikreform am 8. Mai im Kabinett beraten lassen zu wollen. 

© picture alliance / Geisler-Fotopress

Großes Reformpuzzle

So will Lauterbach den Krankenhaus-Sektor umbauen